Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
Hosentasche.
»Immerhin ist Weihnachten, da werden wir ja kein Wasser trinken.«
Während des Essens erzählte Daldry von seiner Kindheit. Er sprach von der schwierigen Beziehung zu seiner Familie, vom Leiden seiner Mutter, die aus Vernunftgründen einen Mann geheiratet hatte, der weder ihre Vorlieben noch ihre Ansichten teilte und noch weniger ihren Feingeist. Er berichtete von seinem älteren Bruder, dem es an Poesie, nicht aber Ehrgeiz mangelte und der, in der Hoffnung, eines Tages der einzige Erbe des väterlichen Geschäfts zu sein, alles getan hatte, um ihn von seiner Familie zu entfernen. Immer wieder fragte er Alice, ob er sie auch nicht langweile, doch diese versicherte ihm, sie fände dieses Familienporträt ganz im Gegenteil faszinierend.
»Und Sie?«, fragte er. »Wie war Ihre Kindheit?«
»Unbeschwert«, antwortete Alice. »Ich bin ein Einzelkind und kann nicht sagen, dass mir ein Bruder oder eine Schwester nicht unglaublich gefehlt hätte – denn das haben sie –, aber die ganze Aufmerksamkeit meiner Eltern hat sich auf mich konzentriert.«
»Und was hat Ihr Vater beruflich gemacht?«, wollte Daldry wissen.
»Er war Apotheker und früher auch Forscher. Er hat sich für Arzneipflanzen begeistert, die er aus allen Ecken der Welt kommen ließ. Meine Mutter arbeitete mit ihm zusammen, sie haben sich an der Uni kennengelernt. Wir waren nicht auf Gold gebettet, aber die Apotheke ging gut. Meine Eltern liebten sich, und wir haben zu Hause viel gelacht.«
»Sie hatten Glück.«
»Ja, das kann ich nicht anders sagen. Aber zugleich strebt man ein schwer zu erreichendes Ideal an, wenn man Zeuge einer so großen Liebe war.«
Alice erhob sich und trug die Teller zum Spülbecken. Daldry räumte den Rest ab und blieb an ihrem Arbeitstisch stehen. Dort betrachtete er die kleinen Tontöpfe, aus denen lange Papierstreifen ragten, und die vielen in Gruppen angeordneten Glasflakons auf dem Regal.
»Rechts stehen die Absolues, man gewinnt sie aus ›Concrètes‹ oder Resinoiden. In der Mitte befinden sich die Kompositionen, an denen ich arbeite.«
»Sind Sie Chemiker wie Ihr Vater?«, fragte Daldry verwundert.
»Absolues sind Essenzen, die Concrètes bekommt man durch Extraktion der Duftstoffe aus bestimmtem Pflanzenmaterial wie beispielsweise Rosen und Flieder. Dieser Tisch, der Sie so neugierig macht, wird als Duftorgel bezeichnet. Parfümeure und Musiker haben viele Ausdrücke gemeinsam, auch wir sprechen von Noten und Klängen. Mein Vater war Apotheker, ich bin das, was man eine Nase nennt. Ich versuche, Kompositionen, neue Düfte zu schaffen.«
»Wirklich ein sehr origineller Beruf! Und haben Sie schon welche kreiert? Ich meine Parfüms, die man auch im Handel kaufen kann? Irgendetwas, was ich vielleicht kenne?«
»Ja, das ist schon vorgekommen«, antwortete Alice mit einem leisen Lachen. »So was ist geheim, aber man kann die eine oder andere meiner Schöpfungen in den Schaufenstern bestimmter Londoner Parfümerien finden.«
»Es muss wunderbar sein, seine Arbeit ausgestellt zu sehen. Vielleicht ist es einem Mann dank des Parfüms, das Sie geschaffen haben, gelungen, eine Frau zu verführen.«
Diesmal lachte Alice laut auf.
»Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen, bisher habe ich nur Damendüfte entwickelt, aber da bringen Sie mich auf eine Idee. Ich müsste eine leicht pfeffrige Note mit einem Hauch von Holz schaffen, etwas Maskulines mit Zeder und Vetiver. Ich werde darüber nachdenken.«
Alice schnitt zwei Scheiben Hefegebäck ab.
»Kosten wir das Dessert, und dann lasse ich Sie gehen. Ich habe einen wunderbaren Abend verbracht, aber ich falle um vor Müdigkeit.«
»Ich auch«, meinte Daldry und gähnte. »Auf dem Rückweg hat es viel geschneit, und ich habe sehr aufpassen müssen.«
»Danke«, flüsterte Alice und schob Daldry eine Scheibe Hefegebäck zu.
»Ich habe zu danken, es ist schon lange her, dass ich so etwas gegessen habe.«
»Danke, dass Sie mich nach Brighton begleitet haben, das war sehr großzügig von Ihnen.«
Daldry hob den Blick zum Glasdach.
»Das Licht in diesem Zimmer muss tagsüber außerordentlich sein.«
»Das ist es auch, irgendwann lade ich Sie zum Tee ein, dann können Sie sich selbst davon überzeugen.«
Nachdem er die letzten Krumen von seinem Hefegebäck verspeist hatte, erhob sich Daldry, und Alice begleitete ihn zur Tür.
»Ich habe es ja nicht weit«, sagte er und trat auf den Flur.
»Nein, wirklich nicht.«
»Frohe Weihnachten, Miss
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