Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
völlig egal, was er mir vererbt, Sorgen dieser Art würde ich meinen Geschwistern überlassen. Das Einzige, was ich zu finden hoffte, sei eine kleine Nachricht, die er mir hinterlassen hätte. Meine Mutter nahm mich fest in die Arme und sagte: ›Mein armer Liebling, er hat dir nichts dergleichen geschrieben.‹ Als sein Sarg in das Grab hinabglitt, war ich außerstande zu weinen. Ich hatte nicht mehr geweint, seitdem ich als kleiner Junge vom Baum gefallen und mir das Knie ernsthaft aufgeschlagen hatte. Heute Morgen aber, als das Haus, in dem ich aufgewachsen war, sich im Rückspiegel entfernte, konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich musste am Straßenrand anhalten, ich sah nichts mehr. Ich fühlte mich so lächerlich, während ich in meinem Wagen Rotz und Wasser heulte wie ein Kind.«
»Sie waren wieder ein Kind, Daldry, Sie hatten Ihren Vater beerdigt.«
»Es ist schon komisch, wissen Sie, wenn ich Pianist geworden wäre, hätte ihn das womöglich mit einem gewissen Stolz erfüllt, vielleicht wäre er sogar zu einem meiner Konzerte gekommen. Die Malerei aber interessierte ihn nicht. Für ihn war das kein Beruf, bestenfalls ein Zeitvertreib. Nun, sein Tod hat mir immerhin die Möglichkeit gegeben, meine ganze Familie wiederzusehen.«
»Sie sollten sein Porträt malen und es in Ihrem Elternhaus aufhängen, in seinem Arbeitszimmer beispielsweise. Ich bin sicher, dort, wo er jetzt ist, würde ihn das sehr berühren.«
Daldry stieß ein bitteres Lachen aus.
»Was für eine schreckliche Idee! So grausam bin ich nun auch wieder nicht, meiner Mutter das anzutun. Jetzt aber Schluss mit dem Gejammer, ich habe Ihre Gastfreundschaft schon lange genug in Anspruch genommen. Ihr Omelette war köstlich und Ihr Gin, von dem ich zugegebenermaßen etwas zu viel getrunken habe, noch mehr. Da Sie wieder gesund sind, gebe ich Ihnen eine weitere Fahrstunde, wenn ich, sagen wir, wieder besser in Form bin.«
»Mit Vergnügen«, erwiderte Alice.
Daldry verabschiedete sich. Er, der sich gewöhnlich kerzengerade hielt, hatte jetzt einen leicht gebeugten Rücken, und sein Gang war unsicher. Mitten auf dem Flur besann er sich, kehrte in Alices Wohnung zurück, griff nach der Ginflasche und verschwand in der seinen.
Alice ging sofort zu Bett, sie war erschöpft, und der Schlaf ließ nicht lange auf sich warten.
»Komm«, haucht ihr die Stimme zu. »Wir müssen fort von hier.«
Eine Tür öffnet sich in die Nacht hinaus. Nirgendwo ein Licht in der Gasse. Die Laternen sind erloschen, die Fensterläden der Häuser geschlossen. Eine Frau fasst sie bei der Hand und zieht sie mit. Sie gehen auf Zehenspitzen durch die menschenleeren Straßen und geben acht, dass kein Schatten, hervorgerufen durch einen Mondstrahl, sie verrät. Ihr Gepäck ist nicht schwer. Ein kleiner schwarzer Koffer, der ihre wenigen Habseligkeiten enthält. Sie erreichen die große Treppe. Von hier aus überblickt man die ganze Stadt. In der Ferne färbt ein gewaltiges Feuer den Himmel purpurrot. »Ein ganzes Viertel brennt«, sagt die Stimme. »Sie sind verrückt geworden. Gehen wir weiter. Dort sind wir in Sicherheit. Sie werden uns beschützen, da bin ich mir sicher. Komm mit mir, Liebes.«
Noch nie hat Alice solche Angst gehabt. Ihre geschundenen Füße schmerzen. Sie trägt keine Schuhe, hat sie in dem Chaos nicht finden können. Eine Gestalt erscheint in einem Torweg. Ein Greis mustert sie und macht ihnen ein Zeichen umzukehren. Er deutet auf eine Barrikade, wo junge bewaffnete Männer Wache halten.
Die Frau zögert, dreht sich um. Sie trägt einen Säugling im Tuch vor der Brust, streicht ihm über den Kopf, um ihn zu beruhigen. Die Hetzjagd geht weiter.
Kleine Stufen führen einen steilen Hang hinauf. Sie kommen an einem Brunnen vorbei. Das sanfte Plätschern des Wassers hat etwas Wohltuendes. Zu ihrer Rechten, in einer Umfassungsmauer, ist eine angelehnte Tür. Die Frau scheint sich hier auszukennen, Alice folgt ihr. Sie laufen durch einen verlassenen Garten mit hohem, unbewegtem Gras. Die Disteln kratzen Alice an den Waden, wie um sie zurückzuhalten. Sie stößt einen erstickten Schrei aus.
Am Ende eines verschlafenen Obstgartens erblickt sie die brüchige Fassade einer Kirche. Sie durchqueren die Apsis. Alles ist verfallen, die verkohlten Bänke sind umgekippt. Alice hebt den Kopf und entdeckt am Gewölbe Mosaiken, die Geschichten aus anderen Jahrhunderten erzählen, aus fernen Zeiten, deren Spuren verblassen. Etwas weiter scheint das
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