Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
nicht.«
Daldry ging, ohne sich zu verabschieden.
Kapitel 4
Die Woche wollte kein Ende nehmen. Alice hatte zwar kein Fieber mehr, war aber außerstande, sich wieder an die Arbeit zu machen, denn sie schmeckte und roch so gut wie nichts. Daldry hatte sie nicht mehr gesehen. Alice hatte mehrmals an seine Tür geklopft, aus der Wohnung ihres Nachbarn aber war kein Geräusch gedrungen.
Carol hatte sie zwischen jedem Bereitschaftsdienst besucht und mit Essensvorräten und den Zeitschriften versorgt, die sie aus dem Wartesaal der Klinik stibitzt hatte. An einem der Abende hatte sie sogar bei ihr übernachtet, weil sie zu müde war und keine Lust hatte, den Weg zu ihrer Wohnung in der winterlichen Kälte zurückzulegen.
Carol hatte das Bett mit Alice geteilt und ihre Freundin mitten in der Nacht mit aller Kraft aus einem der Albträume wachgerüttelt, die sie inzwischen regelmäßig heimsuchten.
Als Alice am Samstag endlich wieder an ihrem Arbeitstisch saß, hörte sie plötzlich Schritte auf dem Flur. Sie sprang auf und eilte zur Tür. Einen kleinen Koffer in der Hand, steuerte Daldry auf seine Wohnungstür zu.
»Guten Tag, Alice«, sagte er, ohne sich umzudrehen.
Er steckte den Schlüssel ins Schloss, zögerte aber einzutreten.
»Tut mir leid, ich konnte Sie nicht besuchen. Ich musste für einige Tage fort«, fügte er hinzu, wobei er ihr noch immer den Rücken zukehrte.
»Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen. Ich war nur einfach in Sorge, nachdem ich Sie gar nicht mehr gehört habe.«
»Ich bin verreist, ich hätte Ihnen eine kleine Nachricht hinterlassen können, habe es aber nicht getan«, sagte er, das Gesicht noch immer der Tür zugewandt.
»Warum kehren Sie mir den Rücken zu?«, wollte Alice wissen.
Daldry drehte sich langsam um. Er war blass, hatte einen Dreitagebart und dunkle Ringe unter den geröteten, feuchten Augen.
»Geht’s Ihnen nicht gut?«, fragte Alice.
»Mir schon«, erwiderte Daldry. »Mein Vater aber hatte die dumme Idee, letzten Montag nicht mehr aufzuwachen. Wir haben ihn vor drei Tagen beerdigt.«
»Kommen Sie«, sagte Alice. »Ich mache Ihnen einen Tee.«
Daldry ließ seinen Koffer stehen, folgte seiner Nachbarin und sank stöhnend in den Sessel. Sie zog den Schemel heran und nahm ihm gegenüber Platz.
Mit verlorenem Blick betrachtete Daldry das Glasdach. Sie respektierte sein Schweigen und blieb fast eine Stunde bei ihm, ohne ein Wort zu sagen. Schließlich erhob sich Daldry mit einem Seufzer.
»Danke«, sagte er, »das war genau das, was ich brauchte. Ich gehe jetzt zu mir, nehme eine heiße Dusche und dann, hopp, ins Bett.«
»Aber vor dem ›Hopp‹ kommen Sie zum Essen. Ich mache uns ein Omelette.«
»Ich habe eigentlich gar keinen Hunger«, erwiderte er.
»Macht nichts, Sie müssen trotzdem essen, das ist wichtig«, gab Alice zurück.
Etwas später kam Daldry wieder. Er trug einen Rollkragenpullover und eine Flanellhose, das Haar war noch immer struppig, die Wangen unrasiert.
»Entschuldigen Sie meinen Aufzug«, sagte er. »Ich muss meinen Rasierapparat im Haus meiner Eltern vergessen haben, und jetzt ist es etwas spät, um einen anderen zu kaufen.«
»Ich finde, der Bart steht Ihnen gut«, gab Alice zurück und ließ ihn eintreten.
Sie speisten vor der Truhe, und Alice hatte eine Flasche Gin geöffnet. Daldry sprach zwar dem Alkohol zu, hatte aber keinen Appetit. Aus reiner Höflichkeit zwang er sich, etwas von dem Omelette zu essen.
»Ich hatte mir geschworen, mich eines Tages mit ihm zu unterhalten, so von Mann zu Mann«, sagte er mitten in ein Schweigen hinein. »Ihm zu erklären, dass ich das Leben, das ich führe, ganz bewusst gewählt habe. Ich habe nie über das seine geurteilt, auch wenn ich viel dazu zu sagen gehabt hätte, und ich hätte von ihm das Gleiche erwartet.«
»Auch wenn er es Ihnen nie gesagt hat, so hat er Sie mit Sicherheit bewundert.«
»Ach, Sie haben ihn nicht gekannt.« Daldry seufzte.
»Was auch immer Sie sich vorgestellt haben mögen, Sie sind sein Sohn.«
»Ich habe vierzig Jahre unter seiner Abwesenheit gelitten, aber dann habe ich mich damit abgefunden. Und jetzt, wo er nicht mehr da ist, scheint der Schmerz seltsamerweise noch größer.«
»Ich weiß«, sagte Alice leise.
»Gestern Abend habe ich mich in sein Arbeitszimmer geschlichen. Meine Mutter hat mich dabei überrascht, wie ich seine Schreibtischschubladen durchwühlte. Sie dachte, ich würde sein Testament suchen, und ich habe ihr erklärt, mir wäre es
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