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Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)

Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
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zu Zeit füllen muss, wenn ich in der Lage sein soll, mich um sie zu kümmern. Also lass uns essen gehen.«
    Der Pub war brechend voll. Carol warf dem Wirt ein kokettes Lächeln zu, woraufhin dieser von seinem Tresen aus auf einen Tisch am Ende des Saals deutete. Die beiden Frauen kamen vor allen anderen Wartenden dran.
    »Schläfst du mit ihm?«, fragte Alice und ließ sich auf der Sitzbank nieder.
    »Ich habe ihn letzten Sommer behandelt – ein riesiger Furunkel an einer Stelle, die größter Diskretion bedarf. Seitdem ist er mein ergebener Diener«, erwiderte Carol und lachte.
    »Ich hätte nie gedacht, dass dein Leben so …«
    »… glamourös ist?«
    »Nein, hart.«
    »Mir gefällt das, was ich mache, auch wenn es nicht immer leicht ist. Als kleines Mädchen habe ich meinen Puppen ständig Verbände angelegt. Das hat meine Mutter schrecklich beunruhigt, doch je ärgerlicher sie wurde, desto berufener fühlte ich mich. Gut, jetzt sag mal, was dich wirklich herführt. Du bist sicher nicht zur Notaufnahme gekommen, um Düfte für deine Parfüms aufzuspüren.«
    »Ich bin hier, um mit dir zu Mittag zu essen. Reicht das nicht als Grund?«
    »Weißt du, eine gute Krankenschwester begnügt sich nicht damit, die Wehwehchen ihrer Patienten zu heilen. Nein, sie sieht auch, wenn etwas in ihrem Kopf nicht stimmt.«
    »Aber ich bin nicht deine Patientin.«
    »Den Eindruck hatte ich aber, als ich dich vorhin in der Halle sah. Sag mir, was nicht stimmt, Alice.«
    »Hast du schon in die Karte geschaut?«
    »Vergiss die Karte«, entgegnete Carol und nahm sie Alice aus der Hand. »Mir bleibt kaum Zeit, das Tagesgericht zu essen.«
    Ein Kellner brachte ihnen zwei Teller mit Hammelragout.
    »Ich weiß«, sagte Carol, »das sieht nicht gerade appetitlich aus, aber du wirst sehen, es schmeckt köstlich.«
    Alice trennte die Fleischstückchen vom Gemüse, das in der Soße schwamm.
    »Vielleicht findest du deinen Appetit ja wieder«, fuhr Carol mit vollem Munde fort, »wenn du gesagt hast, was dir gegen den Strich geht.«
    Angewidert spießte Alice ein Stück Kartoffel mit der Gabel auf.
    »Also gut«, sagte Carol, »ich bin wahrscheinlich dickköpfig und arrogant, aber wenn du nachher in der Straßenbahn sitzt, findest du es sicher idiotisch, deinen halben Tag vergeudet und nicht einmal dieses scheußliche Ragout gekostet zu haben, und das umso mehr, als du die Rechnung bezahlst. Alice, sag mir, was nicht stimmt. Du machst mich verrückt mit deinem Schweigen.«
    Endlich rang sich Alice durch, von dem Albtraum zu erzählen, der sie nächtlich heimsuchte, von dem Unbehagen, das ihre Tage vergiftete.
    Carol hörte ihr mit größter Aufmerksamkeit zu.
    »Ich muss dir etwas erzählen«, sagte sie schließlich. »Am Abend der ersten Bombenangriffe auf London hatte ich Dienst. Sehr bald trafen die ersten Verletzten ein. Die meisten unter ihnen hatten schwere Verbrennungen, konnten aber noch zu Fuß kommen. Einige Mitglieder des Personals hatten das Krankenhaus verlassen, um in Kellern Schutz zu suchen, die meisten aber waren auf ihrem Posten geblieben. Dass ich noch da war, hatte nichts mit Heldenmut, vielmehr mit Feigheit zu tun. Ich hatte eine Heidenangst, den Fuß vor die Tür zu setzen und draußen in den Flammen zu sterben. Nach etwa einer Stunde verebbte der Strom der Verletzten urplötzlich. Der Oberarzt, ein gewisser Doktor Turner, ein umwerfend attraktiver Mann mit Augen, die selbst eine Nonne hätten schwach werden lassen, rief uns zusammen, um uns zu sagen: ›Wenn keine Verletzten mehr eintreffen, dann, weil sie verschüttet sind. Das heißt, wir müssen sie herausholen.‹ Wir schauten ihn alle verdattert an. Dann fügte er hinzu: ›Ich zwinge niemanden, doch die unter Ihnen, die den Mut haben, sollen sich mit Tragen bewaffnen und die Straßen absuchen. Es gibt momentan mehr Leben außerhalb als innerhalb dieser Mauern zu retten.‹«
    »Und hast du mitgemacht?«, fragte Alice.
    »Ich bin Schritt für Schritt bis zum Untersuchungsraum zurückgewichen und habe dabei den Himmel angefleht, dass Turners Blick nicht den meinen kreuzt. Dort angekommen, habe ich mich zwei Stunden lang in der Garderobe versteckt. Mach dich nicht über mich lustig, oder ich gehe. Zusammengekauert in diesem Schrank, habe ich die Augen geschlossen, ich hätte mich am liebsten in Luft aufgelöst. Es gelang mir schließlich, mir einzureden, dass ich nicht dort war, sondern in meinem Schlafzimmer bei meinen Eltern in Saint Mawes und dass all diese

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