Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
bleiche Gesicht eines Christus sie zu fixieren. Eine Tür öffnet sich. Alice betritt die zweite Apsis. In der Mitte erhebt sich ein einziges riesiges Grabmal, bedeckt mit Fayencen. Schweigend lassen sie es hinter sich. Und plötzlich sind sie in der alten Sakristei. Unter den beißenden Geruch von verbranntem Stein mischt sich der von Thymian und Kümmel. Alice kennt diese Namen noch nicht, doch die Gerüche sind ihr vertraut. Diese Kräuter wucherten einst auf Brachland hinter ihrem Haus. Selbst in dem Wind, der sie bis zu ihr hinträgt, vermag sie, sie auszumachen.
Die verkohlte Kirche ist nur noch eine Erinnerung. Die Frau führt sie jetzt durch ein Gitter in eine andere Gasse. Alice hat keine Kraft mehr, die Beine versagen ihr den Dienst. Die Hand, die sie hielt, lockert den Griff und lässt sie schließlich ganz los. Sie sinkt auf das Pflaster, die Frau entfernt sich, ohne sich umzudrehen.
Plötzlich fallen dicke, schwere Regentropfen vom Himmel. Alice ruft um Hilfe, doch der Lärm des Schauers übertönt ihre Schreie, die Gestalt ist bald verschwunden. Auf Knien, starr vor Kälte, bleibt Alice allein zurück. Sie stößt einen langen, gedehnten Schrei aus, fast einen Todesschrei.
Hagelkörner trommelten auf das Glasdach. Keuchend setzte sich Alice in ihrem Bett auf und tastete nach dem Schalter ihrer Nachttischlampe. Als sich ihre Augen an das Licht gewöhnt hatten, ließ sie den Blick durch den Raum schweifen und betrachtete einen nach dem anderen die vertrauten Gegenstände.
Wütend, dass sie sich wieder einmal von dem Albtraum, der sie jede Nacht heimsuchte, hatte quälen lassen, schlug sie mit beiden Fäusten auf die Matratze. Sie stand auf, trat an ihren Arbeitstisch, öffnete das Fenster, das auf den Hof ging, und holte tief Luft. In Daldrys Wohnung war noch Licht, und seine Gegenwart, wenn auch für sie unsichtbar, beruhigte sie. Morgen würde sie Carol aufsuchen und um Rat fragen. Es müsste doch ein Mittel geben, um endlich wieder durchschlafen zu können. Eine Nacht ohne diesen imaginären Terror, ohne diese Fluchten durch unbekannte Straßen, eine friedliche Nacht war alles, wovon Alice träumte.
Alice verbrachte die folgenden Tage an ihrem Arbeitstisch. Jeden Abend zögerte sie den Zeitpunkt des Zubettgehens hinaus, kämpfte gegen die Müdigkeit an wie gegen eine Angst, die sie mit Einbruch der Dunkelheit überfiel. Jede Nacht durchlebte sie denselben Albtraum, der sich in einer regnerischen Gasse abspielte, wo sie wie erstarrt auf dem Pflaster hockte.
Um die Mittagszeit stattete sie Carol einen Besuch ab.
Alice bat die Dame am Empfang, ihre Freundin zu benachrichtigen. Sie wartete eine gute halbe Stunde in der Halle zwischen den Rolltragen, die von Sanitätern aus den mit Blaulicht und heulenden Sirenen nahenden Ambulanzen vorbeigeschoben wurden. Eine Frau flehte, man möge sich um ihr Kind kümmern. Ein Greis, der ungereimtes Zeug murmelte, schlängelte sich zwischen den Bänken hindurch, auf denen andere Kranke darauf warteten, endlich aufgerufen zu werden. Ein junger, kreidebleicher Mann lächelte ihr zu, seine Augenbraue war aufgeplatzt, Blut rann ihm dickflüssig über die Wange. Ein Mann um die fünfzig hielt beide Hände auf die Rippen gepresst und schien Höllenqualen zu durchleiden. Inmitten dieses menschlichen Elends bekam Alice plötzlich ein schlechtes Gewissen. Wenn ihre Nächte vielleicht auch albtraumhaft waren, so waren die Tage ihrer Freundin kaum besser. Carol erschien und schob eine Trage vor sich her, deren Räder quietschten.
»Was machst du denn hier?«, fragte sie, als sie Alice erblickte. »Bist du etwa krank?«
»Nein, ich wollte mit dir zu Mittag essen.«
»Das ist aber eine nette Überraschung. Ich muss ihn nur schnell unterbringen«, sagte sie und deutete auf ihren Patienten. »Dann bin ich bei dir. Ganz schön unverschämt, mir nicht Bescheid zu geben. Bist du schon lange da?«
Carol übergab die Rolltrage einer Kollegin, zog ihren Kittel aus, nahm Mantel und Schal aus ihrem Spind und eilte zu ihrer Freundin zurück. Dann führte sie Alice aus dem Krankenhausareal.
»Komm«, sagte sie, »an der nächsten Straßenecke ist ein Pub. Es ist das am wenigsten schlechte im Viertel, und verglichen mit unserer Cafeteria ist es fast ein gutes Restaurant.«
»Und all diese Patienten, die da warten?«
»Die Halle ist immer voll mit Kranken und das vierundzwanzig Stunden an jedem Tag, den Gott uns schenkt, aber Gott hat mir auch einen Magen gegeben, den ich von Zeit
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