Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
Menschen, die ringsumher schrien, nur schreckliche Puppen waren, derer ich mich gleich am nächsten Tag entledigen musste, um bloß nicht mehr Krankenschwester zu sein.«
»Du hast dir nichts vorzuwerfen, Carol, ich wäre auch nicht mutiger gewesen als du.«
»Doch, wärst du bestimmt! Am nächsten Tag bin ich ins Krankenhaus zurückgekehrt – beschämt, aber am Leben. An den folgenden vier Tagen bin ich an den Klinikwänden entlanggeschlichen, um Doktor Turner zu meiden. Und, Ironie des Schicksals, ich wurde in den Operationsblock gerufen für eine Amputation, durchgeführt von …«
»… Doktor Turner?«
»Höchstpersönlich! Und als wäre das nicht schon genug, waren wir dann auch noch allein im Vorbereitungsraum. Während wir uns die Hände wuschen, habe ich ihm von meiner Flucht und meinem Versteck in dem Schrank erzählt, ich habe mich lächerlich gemacht.«
»Wie hat er reagiert?«
»Er hat mich gebeten, ihm die Handschuhe überzustreifen, und gesagt: ›Es ist ganz und gar menschlich, Angst zu haben. Glauben Sie vielleicht, ich hätte keine Angst, bevor ich operiere? Wenn Sie das annehmen, habe ich meinen Beruf verfehlt und hätte besser Schauspieler werden sollen.‹« Carol tauschte ihren leeren Teller gegen den von Alice. »Und dann sah ich ihn mit seinem Mundschutz in den OP -Block treten, er hatte seine Angst hinter sich gelassen. Tags darauf habe ich versucht, mit ihm zu schlafen, aber dieser Idiot ist verheiratet und noch dazu treu. Drei Tage später wurde London wieder bombardiert. Ich hatte weder Handschuhe noch Mundschutz und bin mit der Gruppe auf die Straße gegangen. Ich habe in Schutt und Asche gewühlt, den Flammen näher als dir jetzt. Und wenn du es genau wissen willst, in dieser Nacht, inmitten der Ruinen, habe ich mir in die Hose gemacht. Jetzt hör mir mal gut zu, meine Liebe, seit diesem Abend in Brighton kurz vor Weihnachten bist du nicht mehr dieselbe. Irgendetwas nagt in deinem Innern, kleine Flammen, die du nicht siehst, die aber deine Nächte verzehren. Also mach es wie ich, komm aus deinem Schrank und stürz los. Mit der Angst im Nacken habe ich die Straßen von London abgesucht, doch das war leichter zu ertragen, als zusammengekauert in meiner Nische zu bleiben, in der ich verrückt zu werden glaubte.«
»Was soll ich denn deiner Meinung nach tun?«
»Du krepierst vor lauter Einsamkeit, du träumst von der großen Liebe und fürchtest nichts mehr, als dich zu verlieben. Die Idee, dich zu binden, von jemandem abzuhängen, versetzt dich regelrecht in Panik. Sollen wir noch mal von deiner Beziehung zu Anton sprechen? Schwindlerin hin oder her, diese Hellseherin hat dir vorhergesagt, dass der Mann deines Lebens in Gott weiß welchem fernen Land auf dich wartet. Na, dann fahr doch hin! Du hast Ersparnisse, leih dir, wenn es sein muss, Geld hinzu und erlaub dir diese Reise. Entdecke einfach selbst, was dich dort erwartet. Und auch wenn du diesem schönen Unbekannten, der dir versprochen wurde, nicht begegnest, wirst du dich befreit fühlen und nichts bereuen.«
»Aber wie, bitte schön, soll ich in die Türkei reisen?«
»Nun, meine Prinzessin, ich bin Krankenschwester, kein Reiseleiter. Ich muss gehen. Die Beratung ist kostenlos, dafür lasse ich dich diese Rechnung hier begleichen.«
Carol erhob sich, zog ihren Mantel an, küsste Alice zum Abschied und ging. Alice sprang auf, stürzte ihr nach und hielt sie draußen am Ärmel fest.
»War das ernst gemeint? Denkst du wirklich, was du da eben gesagt hast?«
»Glaubst du vielleicht, ich hätte dir sonst von meinen Heldentaten erzählt? Geh wieder rein, oder muss ich dich daran erinnern, dass du bis vor Kurzem krank warst. Ich habe noch andere Patienten und kann mich nicht rund um die Uhr um dich kümmern. Los, rein mit dir.«
Schon entfernte sich Carol im Laufschritt.
Alice kehrte an ihren Tisch zurück, setzte sich auf Carols Stuhl und schmunzelte, als sie den Kellner herbeirief und ein Bier bestellte … sowie ein Tagesgericht.
Der Verkehr war dicht, Karren, Motorräder mit Beiwagen, Lastwagen und Automobile aller Art versuchten, die Kreuzung zu überqueren. Wäre Daldry da gewesen, er hätte seinen Spaß gehabt. Die Straßenbahn hielt an. Alice sah aus dem Fenster.
Eingeklemmt zwischen einem Lebensmittelladen und einem Antiquitätengeschäft, befand sich ein kleines Reisebüro. Sie betrachtete es nachdenklich. Die Trambahn fuhr weiter.
Sie stieg an der nächsten Haltestelle aus und lief die Straße zurück. Nach
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