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Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)

Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
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zur Verfügung stellte. Sie würde sich das Ganze noch einmal durch den Kopf gehen lassen, wenn man ihr über den Seeweg eine stärkere Maschine schicken würde, die höher fliegen könne, was Caudron ihr daraufhin versprach. Am Abend, als sie sich nach Argentinien einschiffte, erwartete sie eine Schar von Journalisten. Man feierte sie, und am nächsten Morgen kündigte die Presse an: ›Adrienne Bolland nutzt ihren Aufenthalt in Argentinien, um die Anden zu überqueren.‹ Ihr Mechaniker forderte Adrienne auf, die Nachricht zu bestätigen oder zu dementieren. Sie schickte Caudron ein Telegramm und erfuhr postwendend, dass es unmöglich sei, ihr die versprochene Maschine zukommen zu lassen. Alle Franzosen von Buenos Aires beschworen sie, von diesem Wahnsinn abzusehen. Eine Frau könne einen solchen Flug nicht im Alleingang absolvieren, ohne ihr Leben ernsthaft zu gefährden. Man bezichtigte sie sogar, eine Verrückte zu sein, die dem Ruf Frankreichs schade. Sie traf ihre Entscheidung und nahm die Herausforderung an. Nachdem sie dies offiziell erklärt hatte, schloss sie sich in ihrem Hotelzimmer ein und weigerte sich, mit wem auch immer zu sprechen. Es bedurfte ihrer ganzen Konzentration, sich mental auf das vorzubereiten, was für andere wie Selbstmord aussah.
    Einige Zeit später, als ihr Flugzeug per Bahn nach Mendoza gebracht wurde, von wo aus sie zu starten gedachte, klopfte es an ihre Tür. Wütend ging sie öffnen, fest entschlossen, den Störenfried wegzuschicken. Vor ihr stand eine junge, schüchterne Frau, die ihr ankündigte, dass sie über hellseherische Fähigkeiten verfüge und ihr etwas äußerst Wichtiges mitzuteilen habe. Adrienne konnte sich schließlich dazu durchringen, sie hereinzulassen. Die Hellseherei wird in Südamerika sehr ernst genommen; man sucht bei der Wahrsagerin Rat, bevor man eine wichtige Entscheidung trifft. Hingegen habe ich gehört, dass es in New York en vogue sei, bevor man heiratet, den Beruf oder den Wohnort wechselt, einen Psychoanalytiker aufzusuchen. Jede Gesellschaft hat ihre Orakel. Kurz, in Buenos Aires um 1920 wäre es ebenso undenkbar gewesen, einen derart riskanten Flug zu unternehmen, ohne vorher eine Hellseherin aufgesucht zu haben, ähnlich wie man in anderen Breiten nicht in den Krieg zog, ohne einen Priester zu konsultieren und sein Schicksal in Gottes Hände zu legen. Ich könnte Ihnen nicht sagen, ob Adrienne, gebürtige Französin, daran glaubte oder nicht, für ihre damalige Umgebung war die Sache von größter Bedeutung, und Adrienne brauchte jede mögliche Unterstützung. Sie zündete sich eine Zigarette an und erklärte, dass sie der jungen Frau so viel Zeit zubillige, bis sie aufgeraucht sei. Die Hellseherin sagte ihr voraus, dass sie lebend und triumphierend das Abenteuer bestehen würde, allerdings nur unter einer Bedingung.«
    »Und welche?«, fragte Alice, die nach und nach Gefallen an Daldrys Geschichte gefunden hatte.
    »Ich war im Begriff, es Ihnen zu erzählen! Die Hellseherin lieferte einen unglaublichen Bericht ab. ›Irgendwann‹, vertraute sie ihr an, ›überfliegen Sie ein großes Tal …‹ Sie berichtete von einem See, den sie erkennen würde, denn er habe Farbe und Form einer Auster. Einer Riesenauster, die in einem Gebirgstal gestrandet sei, man könne es nicht verwechseln. Zur Linken der gefrorenen Wasserfläche würden Wolken den Himmel verdunkeln, während er zur Rechten blau und wolkenlos sei. Jeder vernunftbegabte Pilot würde natürlich letztere Route nehmen, die Hellseherin aber warnte Adrienne. Wenn sie sich für die scheinbar leichtere Route entscheiden würde, wäre sie dem Tod geweiht. Vor ihr würden sich unüberwindbare Gipfel auftürmen. Über besagtem See müsste sie in Richtung der Wolken fliegen, so dunkel sie auch seien. Adrienne fand diese Empfehlung idiotisch. Welcher Pilot würde blindlings auf seinen sicheren Tod zusteuern? Die Tragflächen ihrer Caudron würden einer derart harten Prüfung nicht standhalten. In einem Himmel voller Turbulenzen würde ihre Maschine zerbrechen. Sie fragte die junge Frau, ob sie in diesen Bergen gelebt habe, wenn sie die Gipfel so gut kenne. Die Hellseherin erwiderte schüchtern, sie sei nie dort gewesen, und zog sich ohne ein weiteres Wort zurück.
    Die Tage vergingen, Adrienne verließ ihr Hotel und machte sich auf den Weg nach Mendoza, das tausendzweihundert Kilometer entfernt lag. Unterwegs im Zug hatte sie ihre flüchtige Begegnung mit der jungen Hellseherin längst vergessen.

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