Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
Sie hatte andere Dinge im Kopf als diese lächerlichen Prophezeiungen. Wie sollte ein ungebildetes Mädchen wissen, dass die Kapazitäten ihrer G3 für dieses Wagnis zu gering waren?«
Daldry legte eine Pause ein, rieb sich das Kinn und warf einen Blick auf seine Uhr.
»O weh, ich habe gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergeht! Entschuldigen Sie, Alice, ich gehe sofort. Ich habe schon wieder Ihre Gastfreundschaft strapaziert.«
Daldry wollte sich aus seinem Sessel erheben, doch Alice hinderte ihn daran und stieß ihn förmlich zurück.
»Wenn Sie drauf bestehen!«, sagte er, zufrieden mit der Wirkung seines kleinen Tricks. »Haben Sie vielleicht noch ein Tröpfchen von diesem Gin, den Sie mir neulich angeboten hatten?«
»Sie haben die Flasche mitgenommen.«
»Wie dumm. Und hatte das arme Fläschchen keine Geschwister?«
Alice holte eine neue Flasche und schenkte Daldry ein.
»Wo war ich noch stehen geblieben …?«, fragte er, nachdem er sein Glas in einem Zug geleert hatte. »In Mendoza angelangt, begab sich Adrienne zu dem Flugplatz von Los Tamarindos, wo ihr Doppeldecker bereits wartete. Dann kam der große Tag. Adrienne fuhr die Maschine auf die Piste. Es fehlte der jungen Pilotin weder an Humor noch an Unbekümmertheit, denn sie hob an einem 1. April ab und hatte ihre Navigationskarte vergessen. Sie nahm Kurs nach Nordwesten, ihr Flugzeug gewann nur mühsam an Höhe, und vor ihr erhoben sich die furchterregenden schneebedeckten Gipfel der Anden in den Himmel. Als sie ein enges Tal überflog, entdeckte sie unten den See mit der Form und Farbe einer Auster. Adriennes steife Finger steckten in improvisierten Handschuhen aus Zeitungspapier, das sie mit Butter eingerieben hatte. In ihrer Fliegerkombination, die viel zu dünn für diese Höhe war, fixierte sie frierend den Horizont und bekam plötzlich höllische Angst. Zu ihrer Rechten öffnete sich das Tal, während sich links die schwarzen Wolken auftürmten. Sie musste augenblicklich eine Entscheidung treffen. Was trieb Adrienne dazu, einer kleinen Hellseherin zu vertrauen, die eines Abends in ihrem Hotelzimmer in Buenos Aires aufgetaucht war? Sie steuerte ihre Maschine in die Wolkenwand, stieg noch höher und konzentrierte sich darauf, den Kurs zu halten. Bald darauf lichtete sich der Himmel, und vor ihr, in über viertausend Meter Höhe tauchte der berühmte Pass mit der gewaltigen Christusstatue auf. Sie flog jetzt in einer Höhe, für die ihr Doppeldecker nicht gemacht war, doch er hielt stand. Sie war bereits drei Stunden unterwegs, als sie einen Wasserlauf entdeckte, der dieselbe Richtung nahm wie sie. Sie ließ das Gebirge hinter sich, überquerte eine weite Ebene und erkannte in der Ferne eine Großstadt: Santiago de Chile. Sie hatte es geschafft! Die Finger steif, das Gesicht gerötet von der Kälte, die Augen so geschwollen, dass sie kaum mehr etwas sehen konnte, landete sie ihre Maschine sicher auf dem Flugplatz und kam direkt vor den drei Flaggen – der französischen, der argentinischen und der chilenischen – zum Stehen, die man dort aufgepflanzt hatte, um ihre Ankunft zu feiern. Sie wurde mit einem Tusch begrüßt, die Menge sprach von einem Wunder, Adrienne und ihr genialer Mechaniker Duperrier hatten eine wahrhafte Glanzleistung vollbracht.«
»Warum erzählen Sie mir das alles, Daldry?«
»Ich habe viel gesprochen, mein Mund ist knochentrocken.«
Alice schenkte ihm nach und sagte: »Ich bin ganz Ohr.« Dabei sah sie, wie er den Gin runterkippte, als wäre es Wasser.
»Ich erzähle Ihnen das alles, weil auch Sie einer Hellseherin begegnet sind, weil diese Ihnen vorausgesagt hat, dass Sie in der Türkei das finden, was Sie vergebens in London suchen, und dass Sie zu diesem Zweck sechs Personen treffen müssen. Ich glaube, die erste von ihnen zu sein und einen Auftrag ausführen zu müssen. Lassen Sie mich Ihr Duperrier sein, der geniale Mechaniker, der Ihnen hilft, Ihre Anden zu überqueren«, rief Daldry, schon reichlich angetrunken. »Ich will Sie wenigstens bis zur zweiten Person führen, die Sie dann mit dem dritten Glied in der Kette bekannt macht, weil die Prophezeiung es uns sagt. Lassen Sie mich Ihr Freund sein und geben Sie mir eine Chance, etwas Sinnvolles im Leben zu tun.«
»Das ist sehr großzügig Ihrerseits«, sagte Alice leicht verwirrt. »Aber ich bin weder Testpilotin und noch weniger Ihre Adrienne Bolland.«
»Aber wie Adrienne haben Sie nächtlich Albträume und sehnen sich tagsüber danach, an diese Vorhersage zu
Weitere Kostenlose Bücher