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Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)

Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
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fragte Daldry, ob er bereit wäre, in der Zwischenzeit in die kleine Gasse vom Vorabend zurückzukehren.
    »Ich bin nicht sicher, ob ich sie wiederfinde«, antwortete Daldry, »aber wir können es versuchen.«
    Alice erinnerte sich genau an den Weg. Als sie das Hotel verlassen hatten, führte sie Daldry ohne das geringste Zögern.
    »Wir sind da«, sagte sie, als sie die Stadtvilla erblickte, deren Erker sich gefährlich über die Straße neigte.
    »Als Kind«, sagte Daldry, »verbrachte ich Stunden damit, die Häuserfassaden zu betrachten und mir vorzustellen, was sich wohl dahinter abspielte. Ich weiß nicht warum, aber das Leben der anderen faszinierte mich, ich wollte wissen, ob es wie das meine verlief oder ganz anders. Ich versuchte, mir den Alltag der Kinder meines Alters auszumalen, wie sie in diesen Häusern spielten, die im Laufe der Jahre zum Zentrum ihres Lebens wurden. Wenn die Fenster abends erhellt waren, dachte ich mir dahinter große Diners und Feste aus. Nach dem baufälligen Zustand dieser Villa zu urteilen muss sie schon lange leer stehen. Was ist aus den Bewohnern geworden, warum haben sie sie verlassen?«
    »Ich habe als kleines Mädchen fast demselben Spiel gefrönt«, sagte Alice. »Ich erinnere mich, dass in dem Haus uns gegenüber ein Paar wohnte, das ich vom Fenster meines Zimmers auszuspionieren versuchte. Der Mann kam jeden Tag um achtzehn Uhr nach Hause, genau dann, wenn ich meine Hausaufgaben begann. Ich sah, wie er im Wohnzimmer seinen Mantel auszog, den Hut abnahm und in einen Sessel sank. Seine Frau brachte ihm etwas zu trinken und nahm dann den Mantel und den Hut des Mannes mit. Dieser schlug seine Zeitung auf und las noch, wenn man mich zum Essen rief. Kam ich später wieder in mein Zimmer, waren die Vorhänge der Wohnung gegenüber zugezogen. Ich verabscheute diesen Kerl, der sich von seiner Frau bedienen ließ, ohne ein Wort mit ihr zu wechseln. Eines Tages, als ich mit meiner Mutter spazieren ging, sah ich ihn auf uns zukommen. Je näher er kam, desto schneller schlug mein Herz. Er verlangsamte den Schritt, um uns zu grüßen. Er sah mich mit einem breiten Lächeln an, das sagen wollte: ›Du bist also das kleine Mädchen, das mich von seinem Zimmerfenster aus beobachtet. Glaubst du, ich hätte dein Spielchen nicht bemerkt?‹ Ich war sicher, dass er mich verraten würde, und hatte noch mehr Angst. Also habe ich ihn ignoriert und weder gegrüßt noch ihm zugelächelt, sondern meine Mutter weitergezogen. Sie hat mich wegen meiner Unhöflichkeit getadelt. Ich fragte sie, ob sie den Mann kenne, und sie erklärte, ich sei nicht nur unerzogen, sondern auch unaufmerksam, denn der Mann sei der Besitzer des Lebensmittelgeschäfts an der Ecke unserer Straße. Das Geschäft, an dem ich jeden Tag vorbeikam und in dem ich manchmal auch eingekauft hatte, aber hinter dem Tresen bediente eine junge Frau. Meine Mutter sagte mir, das sei seine Tochter, die ihn auch versorge, seit er Witwer sei. Das hat meinem Selbstbewusstsein einen schweren Schlag versetzt, schließlich hatte ich mich für eine aufmerksame Beobachterin gehalten …«
    »Wenn die Fantasie mit der Realität konfrontiert wird, kommt es oft zu Enttäuschungen«, sagte Daldry und lief weiter durch die kleine Gasse. »Ich habe lange geglaubt, das junge Dienstmädchen, das bei meinen Eltern gearbeitet hat, wäre verliebt in mich, und war sogar sicher, Beweise dafür zu haben. Im Grunde aber schlug ihr Herz für meine ältere Schwester. Meine Schwester schrieb Gedichte, und das Dienstmädchen las sie im Verborgenen. Die beiden hatten insgeheim eine glühende Liebesbeziehung. Das Dienstmädchen tat nach außen so, als wäre sie in mich verknallt, damit meine Mutter nichts von dieser heimlichen Affäre bemerkte.«
    »Ihre Schwester liebt Frauen?«
    »Ja, und auch wenn es der engstirnigen Moral widersprechen mag, ist das wesentlich achtbarer, als niemanden zu lieben. – Und wenn wir jetzt diese mysteriöse Gasse näher in Augenschein nehmen würden, darum sind wir ja schließlich hier, nicht wahr?«
    Alice ging voran. Die alte Villa aus geschwärztem Holz schien die beiden Eindringlinge schweigend zu beobachten, doch am Ende der Straße gab es keine Treppe und nichts, was Alices Albtraum ähnlich gewesen wäre.
    »Tut mir leid, meinetwegen haben Sie Ihre Zeit vergeudet.«
    »Ganz und gar nicht, dieser kleine Spaziergang hat meinen Appetit angeregt. Am Anfang der großen Straße habe ich ein Café entdeckt, das mir weit malerischer

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