Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
eisernen Bottich und glaubt kurz, ihr Spiegelbild in dem warmen Wasser zu sehen, doch die Oberfläche trübt sich.
Alice möchte dieses Wasser trinken, sie hat Durst, und ihre Kehle ist so trocken, dass sie kaum mehr Luft bekommt. Ihre Wangen brennen, und sie hat das Gefühl, ihr Kopf würde in einem Schraubstock stecken.
»Geh, Alice. Du hättest nicht wiederkommen dürfen. Kehr nach Hause zurück, es ist nicht zu spät.«
Alice öffnete die Augen und richtete sich auf. Sie glühte vor Fieber, ihr Körper war steif, die Glieder waren kraftlos. Plötzlich überkam sie Übelkeit, und sie lief ins Bad.
Als sie zitternd in ihr Zimmer zurückkam, rief sie die Rezeption an und bat, man möge ihr schnellstmöglich einen Doktor schicken und Mr. Daldry verständigen.
Der Arzt stellte eine Lebensmittelvergiftung fest und verschrieb Medikamente, die Daldry sofort aus der Apotheke holte. Alice würde sich schnell wieder erholen. Unannehmlichkeiten dieser Art seien bei Touristen nicht selten und kein Grund zur Beunruhigung.
Am frühen Abend klingelte das Telefon in Alices Zimmer.
»Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass Sie die Meeresfrüchte essen, ich habe ein furchtbar schlechtes Gewissen«, sagte Daldry, der sie aus seinem Zimmer anrief.
»Es ist nicht Ihre Schuld«, erwiderte Alice, »Sie haben mich schließlich nicht dazu gezwungen. Aber bitte seien Sie mir nicht böse, wenn ich Sie heute allein zu Abend essen lasse. Ich glaube, ich kann jedweden Essensgeruch nicht ertragen. Allein bei dem Gedanken daran wird mir schon wieder schlecht.«
»Dann denken Sie nicht daran, auch ich werde heute Abend aus Solidarität fasten, das wird mir guttun. Ein kleiner Bourbon und dann ab ins Bett.«
»Sie trinken zu viel, Daldry, und auch völlig grundlos.«
»In Ihrem Zustand sollten Sie davon absehen, mir gute Ratschläge hinsichtlich meiner Gesundheit zu geben. Ich will ja nicht respektlos sein, aber ich glaube, man kann behaupten, dass ich in besserem Zustand bin als Sie.«
»Das mag für heute zutreffen, aber für morgen und die kommenden Tage liege ich, glaube ich, richtig.«
»Richtig wäre, dass Sie sich ausruhen, statt sich um mich zu sorgen. Schlafen Sie, so viel Sie können, und nehmen Sie Ihre Medikamente. Wenn die Diagnose des Arztes korrekt war, werde ich morgen das Vergnügen haben, Sie wieder in bester Form anzutreffen.«
»Haben Sie etwas von unserem Führer gehört?«
»Noch nicht«, sagte Daldry, »aber ich erwarte seinen Anruf. Deshalb werde ich jetzt die Leitung freimachen und Sie schlafen lassen.«
»Gute Nacht, Ethan.«
»Gute Nacht, Alice.«
Sie legte auf und spürte ein unbestimmtes Angstgefühl bei der Vorstellung, das Licht zu löschen. Also ließ sie die Nachttischlampe brennen und schlief bald darauf ein. In dieser Nacht störte kein Albtraum ihren Schlaf.
Der Parfümeur lebte in Cihangir. Zwischen seinem Haus, das auf einem Brachland oberhalb des Stadtviertels lag, und dem seines Nachbarn war eine Wäscheleine gespannt, auf der Kittel, Hosen, Hemden, Unterhosen und sogar eine Uniform hingen. Es war nicht leicht, die gepflasterte Straße bei Regenwetter hinaufzufahren, und das Taxi musste zwei Anläufe nehmen. Die Räder des Chevrolets drehten durch, und die Kupplung stank nach verschmortem Gummi. Der Fahrer, der niemals den abgefahrenen Reifen die Schuld gegeben hätte, schimpfte, was das Zeug hielt. Er hätte die Fahrt nicht annehmen dürfen, und ohnehin gab es auf den Hügeln von Cihangir nichts für Touristen zu sehen. Daldry, der vorn Platz genommen hatte, legte einen Geldschein auf die Sitzbank des alten Chevrolets, und der Fahrer schwieg endlich.
Als sie über das Brachland liefen, fasste Can Alice beim Arm, damit sie den Fuß nicht in eine Pfütze setzte.
Der feine Nieselregen, der auf die Stadt niederging, würde den Boden nicht vor dem Abend durchnässt haben, aber Can wollte sich fürsorglich zeigen. Alice fühlte sich zwar schon besser, aber immer noch zu schwach, um diese Aufmerksamkeit ihr gegenüber gebührend zu würdigen. Daldry enthielt sich jeglichen Kommentars.
Sie betraten das Haus. Der Raum, in dem der Parfümeur arbeitete, war groß. In einem ausladenden Samowar glühte Kohle, und die Wärme, die sie ausstrahlte, ließ die staubigen Scheiben des Ateliers beschlagen.
Der Mann, der nicht verstand, warum zwei Engländer aus London gekommen waren, um ihn zu besuchen – wenngleich er sich sehr geehrt fühlte –, bot ihnen Tee und kleine mit Sirup getränkte Kuchen
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