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Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)

Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
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Einzelheit der elterlichen Wohnung zu vergegenwärtigen – das Schlafzimmer mit dem großen Bett und der grauen Decke, das Nachtkästchen ihres Vaters, auf dem sein ledernes Brillenetui neben einem kleinen Wecker lag, das ihrer Mutter mit einem Foto von ihr, welches sie im Alter von fünf Jahren in einem silbernen Rahmen gefangen zeigte, die große Truhe am Fußende des Betts, der rot-braun gestreifte Teppich, das Esszimmer mit dem Mahagonitisch und den sechs passenden Stühlen, das Büfett mit dem teuren Festtagsporzellan, das nie benutzt wurde, das Chesterfieldsofa, auf dem die Familie saß, wenn sie abends Radio hörte, das kleine Regal, die Bücher, die ihre Mutter las – nichts davon hatte einen Bezug zu Istanbul.
    »Wenn Ihre Eltern jemals in der Türkei waren, dann gibt es vielleicht Spuren ihres Besuchs bei den entsprechenden Behörden«, meinte Can. »Morgen Abend organisiert die britische Botschaft eine Abendzeremonie. Ihr Botschafter kommt extra aus Ankara, um eine Militärdelegation mit vielen Offizieren meiner Regierung zu begrüßen«, fügte er stolz hinzu.
    »Und woher wissen Sie das?«, fragte Daldry.
    »Weil ich selbstverständlich der beste Führer von Istanbul bin! Gut, ich habe heute Morgen einen Artikel in der Zeitung gelesen. Und weil ich ganz ebenso der beste Dolmetscher der Stadt bin, bin ich zu der Zeremonie eingefordert.«
    »Wollen Sie damit sagen, dass wir morgen Abend auf Ihre Dienste verzichten müssen?«
    »Ich wollte Ihnen vorschlagen, Sie zu diesem Fest vorladen zu lassen.«
    »Nun übertreiben Sie nicht, der Konsul wird nicht alle Engländer einladen, die sich gerade in Istanbul aufhalten.«
    »Ich weiß nicht, was übertreiben bedeutet, aber ich werde das Wort lernen. Einstweilen wäre es der jungen Sekretärin, die die Gästeliste verwaltet, ein Vergnügen, mir den Gefallen zu tun, Ihre Namen aufzunehmen, sie kann Can nichts abschlagen … Ich lasse Ihnen Einlasskarten ins Hotel bringen.«
    »Sie sind ein komischer Kauz, Can«, meinte Daldry. »Aber wenn es Ihnen Freude macht«, fuhr er fort und wandte sich zu Alice um, »könnten wir uns beim Botschafter vorstellen und um die Hilfe der Konsularabteilung bitten. Wozu sind unsere Behörden gut, wenn man sie im Bedarfsfall nicht mal um eine kleine Gefälligkeit bitten kann! Also, was halten Sie davon?«
    »Ich muss wissen, woran ich bin.« Alice seufzte. »Ich will verstehen, warum diese Albträume so realistisch sind.«
    »Ich verspreche Ihnen, dass ich alles tun werde, um dieses Mysterium zu enthüllen, aber erst, wenn ich etwas gegessen habe. Sonst müssen Sie sich bald um mich kümmern, ich bin der Ohnmacht nahe und habe furchtbaren Durst.«
    Can deutete auf das Fischerlokal am Ende des Piers. Dann entfernte er sich und setzte sich auf einen Poller.
    »Guten Appetit«, sagte er mit gleichgültiger Miene und verschränkten Armen. »Ich warte hier auf Sie und rühre mich nicht von der Stelle.«
    Der vernichtende Blick, mit dem Alice ihn bedachte, entging Daldry nicht, und er trat einen Schritt auf Can zu.
    »Aber was sitzen Sie auf diesem Ding herum? Sie glauben doch wohl nicht, dass wir Sie hier allein in der Kälte zurücklassen.«
    »Ich will Sie nicht belästigen, und ich merke ja, dass ich Sie belaste. Gehen Sie essen, ich bin an die Winter von Istanbul und auch an den Regen gewöhnt.«
    »Nun spielen Sie nicht die beleidigte Leberwurst!«, protestierte Daldry. »Wie sollte ich ohne den besten Dolmetscher der Stadt an meiner Seite wohl in einem einheimischen Lokal etwas bestellen?«
    Geschmeichelt von dem Kompliment, nahm Can die Einladung an.
    Das gute Essen und der herzliche Empfang überraschten Daldry. Beim Kaffee überkam ihn eine plötzliche Melancholie, die Alice und Can verwunderte. Unter dem Einfluss des Alkohols gestand er schließlich, dass er sich Vorwürfe mache wegen der Vorurteile, welche er gegenüber diesem Restaurant gehegt hatte. Und mit einem behaglichen Seufzer trank er den vierten Raki.
    »Das ist die Rührung«, meinte er. »Diese Soße zu meinem Fisch, das köstliche Dessert – ich werde übrigens noch etwas davon nehmen –, das war einfach überwältigend. Bitte«, fuhr er larmoyant fort, »sagen Sie dem Wirt, dass es mir aufrichtig leidtut, und vor allem versprechen Sie mir, dass Sie uns ganz schnell andere Orte wie diesen zeigen werden. Vielleicht schon gleich heute Abend?«
    Als der Kellner vorbeikam, hob Daldry sein Glas, um nachgeschenkt zu bekommen.
    »Ich glaube, Sie haben genug getrunken,

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