Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
trifft sich gut, denn genauso müssen Sie heute Abend auftreten. Wir wollen einen Botschafter betören, und auf mich brauchen Sie dabei nicht zu zählen.«
»Ich weiß nicht, wie Sie das gemacht haben, aber alles passt wunderbar.«
»Auch wenn es nicht den Anschein hat, ich bin immerhin Maler, und das Gefühl für Proportionen gehört zu meinem Metier.«
»Was Sie für mich ausgesucht haben, ist großartig, ich habe noch nie ein so schönes Kleid getragen. Ich werde gut aufpassen, dann können Sie es in tadellosem Zustand zurückgeben. Sie haben es doch ausgeliehen, nicht wahr?«
»Wussten Sie, dass diese neue Mode einen Namen hat? New Look, ein französischer Couturier hat sie entwickelt! In der Kriegskunst waren unsere Nachbarn nie brillant, aber was modische und kulinarische Kreationen betrifft, muss ich ihnen ein unvergleichliches Genie zugestehen.«
»Ich hoffe, ich werde Ihnen heute Abend im New Look gefallen.«
»Daran zweifele ich keine Sekunde. Diese Frisur ist wirklich eine gute Idee, sie betont ihren Nacken – ganz reizend.«
»Die Frisur oder der Nacken?«
Daldry reichte Alice die Imbisskarte.
»Sie sollten etwas essen. Heute Abend wird man sich dem Büfett nur unter körperlichem Einsatz nähern können, und Sie werden keinen Kampfanzug tragen.«
Alice bestellte Kuchen und Tee. Kurz darauf zog sie sich zurück, um sich umzukleiden.
In ihrem Zimmer öffnete sie die Schranktür und legte sich aufs Bett, um ihr neues Kleid zu bewundern.
Ein sintflutartiger Regen ging auf die Dächer von Istanbul nieder. Alice trat ans Fenster. In der Ferne waren die Sirenen der Dampfschiffe zu vernehmen. Der Bosporus war hinter einer grauen Wolkenwand verschwunden. Alice betrachtete das Treiben vor dem Hotel. Die Leute suchten Schutz in den Straßenbahnwartehäuschen, andere stellten sich unter die Dachvorsprünge, auf den Bürgersteigen stießen die Regenschirme aneinander. Alice wusste, dass sie zu jenem Leben gehörte, das sich unter ihrem Fenster abspielte. Aber in diesem Augenblick, hinter den dicken Mauern des Luxushotels und mit dem wunderbaren Kleid, das sie erwartete, fühlte sie sich in eine andere Welt versetzt – die der Privilegierten, die sie heute Abend treffen würde. Eine Welt, deren Sitten sie nicht kannte, und das machte sie umso gespannter.
Sie rief das Zimmermädchen zu Hilfe, um den Reißverschluss ihres Kleides zu schließen. Dann rückte sie den Hut zurecht und machte sich auf den Weg in die Halle. Daldry entdeckte sie in dem gläsernen Aufzug, der sie nach unten brachte, und fand sie noch bezaubernder, als er es erwartet hatte. Er empfing sie und reichte ihr den Arm.
»Im Allgemeinen verabscheue ich solche Mondänitäten, aber heute mache ich eine Ausnahme, Sie sind …«
»Absolut New Look!«, sagte Alice.
»So kann man es auch sehen. Ein Wagen erwartet uns, wir haben Glück, es hat aufgehört zu regnen.«
In knapp zwei Minuten hatte das Taxi das Konsulat erreicht, dessen Eingang nur fünfzig Meter vom Hotel entfernt war, man brauchte fast nur die Straße zu überqueren.
»Ich weiß, es ist irgendwie albern, aber ich wollte nicht, dass wir zu Fuß ankommen, eine Frage des Standings«, erklärte Daldry.
Er ging um den Wagen herum und öffnete Alice die Tür, und schon eilte ein livrierter Butler herbei, um ihr beim Aussteigen zu helfen.
Langsam schritten sie die Freitreppe hinauf, denn Alice fürchtete, mit ihren hohen Absätzen zu stolpern. Daldry reichte dem Pförtner die Einladungen, gab seinen Mantel an der Garderobe ab und führte Alice in den Empfangssaal.
Die Männer drehten sich nach ihnen um, einige unterbrachen sogar ihr Gespräch. Die Damen musterten Alice von Kopf bis Fuß. Frisur, Jacke, Kleid, Schuhe, alles war von ausgesuchter Modernität. Die Gattin des Botschafters lächelte sie freundlich an. Daldry trat auf sie zu.
Er verbeugte sich, um ihr die Hand zu küssen, und stellte Alice den protokollarischen Regeln entsprechend vor.
Die Frau des Botschafters erkundigte sich, was ein derart charmantes Paar so weit von England entfernt suche.
»Parfüms, Eure Exzellenz«, erwiderte Daldry. »Miss Pendelbury ist eine der begabtesten Nasen des Königreichs. Einige ihrer Kreationen kann man schon in den besten Parfümerien von Kensington kaufen.«
»Was für ein Glück!«, erwiderte die Frau des Botschafters. »Wenn wir nach London fahren, werde ich es nicht versäumen, mir etwas davon zu besorgen.«
Doch Daldry erbot sich sofort, ihr einige Flakons zukommen zu
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