Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
eine solche Melancholie in mir? Sie überkommt mich, sobald ich auf die Straße trete, und lässt mich bis zum Abend nicht mehr los. Aber miss dem, was ich schreibe, keine Bedeutung bei. Die Cafés und kleinen Restaurants sind voller Leben, die Stadt ist schön, und weder Schmutz noch Staub vermögen ihrer Pracht etwas anzuhaben. Die Menschen hier sind so freundlich und großzügig, und mich ergreift, wie ich zugeben muss, eine große Sehnsucht nach diesem verfallenden Erbe.
Als ich heute Nachmittag in der Nähe des Galata-Turms spazieren ging, habe ich inmitten des Viertels hinter einem schmiedeeisernen Tor einen kleinen verschlafenen Friedhof entdeckt. Ich habe mir die Gräber mit den wackligen Steinen angesehen und hatte, ich weiß nicht warum, den Eindruck, zu dieser Erde zu gehören. Jede Stunde, die ich hier verbringe, lässt meine übergroße Liebe zu diesem Land noch wachsen.
Anton, verzeih mir diese konfusen Worte, die für Dich vermutlich keinerlei Sinn ergeben. Ich schließe die Augen und höre Deine Trompete im abendlichen Istanbul, ich höre Deinen Atem, sehe Dich in der Ferne, in einem Londoner Pub spielen. Ich würde gerne wissen, wie es Sam, Eddy und Carol geht. Ihr fehlt mir alle vier, und ich hoffe, dass auch ich Euch fehle.
Ich umarme Dich, und mein Blick gleitet über die Dächer einer Stadt, die auch Du – da bin ich mir ganz sicher – leidenschaftlich lieben würdest.
Alice
Kapitel 8
Um zehn Uhr morgens klopfte es an Alices Zimmertür. Obwohl sie laut rief, sie stünde unter der Dusche, wurde weiter geklopft. Alice schlüpfte in ihren Morgenmantel und konnte im Spiegel der Badezimmertür gerade noch das Etagenmädchen hinausgehen sehen. Auf ihrem Bett fand sie einen Kleidersack, eine Schuh- und eine Hutschachtel. Neugierig öffnete sie die Verpackung und entdeckte ein Abendkleid, ein paar Pumps und einen bezaubernden Filzhut, dazu eine handgeschriebene Nachricht von Daldry: Ich erwarte Sie heute Abend um achtzehn Uhr in der Hotelhalle.
Entzückt ließ Alice ihren Morgenmantel auf den Boden gleiten und konnte der Versuchung einer spontanen Anprobe nicht widerstehen.
Das Kleid lag in der Taille eng an und öffnete sich dann zu einem weiten Rock. Seit dem Krieg hatte Alice kein Kleidungsstück gesehen, das so viel Stoff barg. Während sie sich im Kreis drehte, hatte sie den Eindruck, jene Jahre, in denen es an allem gemangelt hatte, zu verscheuchen. Vergessen waren die steifen Röcke und die knappen Jacken. Das Kleid, das sie trug, war schulterfrei, ließ die Taille schmaler und die Hüften runder wirken, und die Länge des Rocks steigerte noch die geheimnisvolle Verheißung der Beine.
Sie setzte sich aufs Bett und probierte die Pumps an. Mit den hohen Absätzen kam sie sich unglaublich groß vor. Sie streifte das kurze Jäckchen über, rückte den Hut zurecht, und als sie sich im Spiegel des Kleiderschranks betrachtete, traute sie ihren Augen nicht.
Während sie alles sorgfältig bis zum Abend auf einen Bügel hängte, bekam sie einen Anruf vom Empfangschef: Ein Page erwartete sie, um sie zum Friseursalon zu begleiten, der etwas weiter entfernt in derselben Straße lag.
»Sie müssen sich im Zimmer irren, ich habe keinen Friseurtermin ausgemacht.«
»Miss Pendelbury, ich versichere Ihnen, dass Sie in zwanzig Minuten bei Guido erwartet werden. Wenn Sie fertig sind, ruft der Salon uns an, damit wir Sie wieder abholen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.«
Der Empfangschef hatte aufgelegt – nicht so Alice, die auf den Hörer starrte, als handele es sich um Aladins Wunderlampe, aus welcher der gute Geist Dschinn aufgetaucht wäre.
Nachdem die Maniküre erledigt und das Haar gewaschen war, rückte Guido, dessen eigentlicher Vorname Onur war, mit seiner Schere an. Der Meister hatte in Rom gelernt und war völlig verändert zurückgekommen. Er erklärte Alice, am späten Vormittag sei ein Herr bei ihm erschienen, der ihm strikte Anweisungen hinsichtlich ihrer Frisur hinterlassen habe: ein tadelloser Knoten, der unter einem Hut getragen werden sollte.
Der Friseurbesuch dauerte über eine Stunde. Sobald Alice fertig war, holte der Page sie wieder ab und begleitete sie ins Hotel. In der Halle teilte der Empfangschef ihr mit, sie werde in der Bar erwartet. Sie traf Daldry an, der eine Limonade trank und Zeitung las.
»Bezaubernd!«, rief er aus und erhob sich.
»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, seit heute Morgen habe ich den Eindruck, eine Märchenprinzessin zu sein.«
»Das
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