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Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)

Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
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verschiedener Orte, die uns an prägende Momente, an einmalige und verflossene Augenblicke erinnern. Wussten Sie, dass das olfaktorische Gedächtnis das einzige ist, das nie vergeht? Die Gesichter derer, die man am meisten geliebt hat, verblassen mit der Zeit, Stimmen vergisst man, aber Gerüche nie. Bei Ihnen als Feinschmecker braucht nur das Aroma einer Speise aus Ihrer Kindheit aufzutauchen, und Sie sehen alles wieder vor sich, jedes Detail. Letztes Jahr hat mich ein Mann aufgesucht, dem eine meiner Kreationen in einer Parfümerie in Kensington gefallen hatte und der von dort meine Adresse erhalten hatte. Er hatte eine Metallschatulle bei sich, die er öffnete und mir ihren Inhalt zeigte: eine alte geflochtene Kordel, ein Holzspielzeug, ein Zinnsoldat in Schuppenuniform, ein Achat und eine kleine abgenutzte Fahne. Seine gesamte Kindheit befand sich in dieser Metallkiste. Ich fragte ihn, was ich damit zu tun hätte und was er von mir erwarte. Da vertraute er mir an, als er mein Parfüm entdeckt habe, sei ihm etwas Eigenartiges passiert. Als er wieder nach Hause kam, habe er den dringenden Wunsch verspürt, auf seinem Speicher zu stöbern, um seine in Vergessenheit geratenen Schätze zu finden. Er hielt mir die Kiste hin, damit ich daran riechen konnte, und bat mich, den Geruch zu reproduzieren, bevor er sich für immer verflüchtigt habe. Ich habe ihm ganz dumm geantwortet, das sei unmöglich. Nachdem er jedoch gegangen war, habe ich auf einem Papier alles notiert, was ich in der Kiste gerochen hatte. Das rostige Metall innen im Deckel, den Hanf der Kordel, das Zinn des Soldaten, die Ölfarbe eines alten Bildes, das Eichenholz, aus dem das Spielzeug gemacht war, die staubige Seide der kleinen Fahne und die Achatkugel. Dann habe ich den Zettel weggeräumt, ohne zu wissen, was ich damit anfangen könnte. Aber heute weiß ich es. Ich weiß, wie ich diesen Beruf auszuüben habe, durch ständiges Beobachten, wie Sie es mit Ihren Straßenkreuzungen machen, indem ich das Unmögliche versuche, um aus Dutzenden Stoffen einen Duft wiederherzustellen. Sie werden von Formen und Farben angeregt, ich von Worten und Gerüchen. Ich werde diesen Parfümeur von Cihangir noch einmal besuchen und ihn um die Erlaubnis bitten, einige Zeit bei ihm zu verbringen, um mich mit seiner Arbeitsweise vertraut zu machen. Wir werden unsere Kenntnisse, unser Wissen austauschen. Ich würde gerne vergangene Momente wiederaufleben lassen, schlummernde Orte zu neuem Leben erwecken. Ich weiß, dass Ihnen meine Erklärungen konfus erscheinen mögen, aber wenn Sie hierbleiben müssten und London Ihnen fehlen würde, könnten Sie sich doch gewiss vorstellen, dass Sie durch so ein Parfüm den Geruch des Regens wiederfänden, der Ihnen so vertraut ist. Unsere Straßen haben ihren eigenen Geruch, am Morgen wieder einen anderen als am Abend. Jede Jahreszeit, jeder Tag, jede Minute, die in unserem Leben wichtig ist, hat ihren besonderen Duft.«
    »Das ist eine merkwürdige Idee, aber es stimmt, ich würde sehr gerne wenigstens noch einmal den Geruch im Büro meines Vaters in der Nase haben. Sie haben recht, wenn ich daran denke, merke ich, dass er viel komplexer war, als es schien. Da war natürlich die Note des Holzfeuers im Kamin, sein Pfeifentabak, das Leder seines Sessels, das übrigens anders roch als die Unterlage, auf der er schrieb. Ich könnte Ihnen gar nicht alle beschreiben, aber ich erinnere mich auch an den Geruch des Teppichs vor seinem Schreibtisch, auf dem ich als Kind spielte. Ich habe dort viele Stunden zugebracht und erbitterte Schlachten mit meinen Zinnsoldaten geführt. Die roten Streifen begrenzten die Positionen der napoleonischen Armeen, die grünen die unserer Truppen. Und dieses Schlachtfeld roch nach Wolle und Staub, was auf mich sehr tröstlich wirkte. Ich weiß nicht, ob Ihre Idee uns ein Vermögen bescheren wird, und ich bezweifle, dass ein Parfüm, das nach Teppich oder einer verregneten Straße duftet, eine große Kundschaft begeistern wird, aber ich sehe darin eine gewisse Poesie.«
    »Ein Straßenparfüm wird es wohl eher nicht werden, aber ein Kindheitsparfüm … Wo wir gerade davon sprechen, ich würde durch ganz Istanbul streifen, um in einem kleinen Flakon den Duft der ersten Herbsttage im Hyde Park zu finden. Wahrscheinlich werde ich Monate brauchen oder Jahre«, fuhr Alice fort, »um etwas Zufriedenstellendes, ausreichend Universelles zu erreichen. Zum ersten Mal fühle ich mich in meiner Arbeit bestätigt, an der ich

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