Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
unserer Etage hinaufzublicken, bin ich einen Schritt zurückgetreten. Vermutlich, weil auch ich einen Abschied vermeiden wollte. Doch als ich dann sah, wie sich Ihr Wagen auf der Istiklal-Straße entfernte, hätte ich Ihnen doch gerne richtig Adieu gesagt und Ihnen für alles gedankt. Auch Sie haben einen verdammt schwierigen Charakter – eine echte Freundin darf das sagen, ohne Sie zu kränken, nicht wahr? –, aber Sie sind ein bemerkenswerter Mann, großzügig, komisch und talentiert.
Die Art, wie Sie mein Freund geworden sind, war ungewöhnlich, und diese Freundschaft hat bis jetzt nur die wenigen Tage und Wochen in Istanbul angedauert, aber – und das ist ebenso ungewöhnlich – heute Morgen habe ich Sie schon aufrichtig vermisst.
Bereitwillig verzeihe ich Ihnen, dass Sie sich so klammheimlich aus dem Staub gemacht haben, ich glaube sogar, es war gut so, denn auch mir sind Abschiede zuwider. Irgendwie beneide ich Sie, bald wieder in London zu sein. Unser altes viktorianisches Haus fehlt mir richtig und auch mein Atelier. Ich werde hier warten, bis sich der Frühling einstellt. Can hat mir versprochen, mir an den ersten schönen Tagen die Prinzeninseln zu zeigen, ein Ausflug, den wir beide versäumt haben. Ich werde Ihnen jedes Eckchen beschreiben, und wenn ich eine Kreuzung entdecke, die Sie interessieren könnte, werde ich sie Ihnen in allen Einzelheiten schildern. Es heißt, die Zeit sei auf diesen Eilanden stehen geblieben, und wenn man dort spazieren gehe, habe man den Eindruck, ins letzte Jahrhundert zurückversetzt zu werden. Es gibt keine Automobile, nur Kutschen dürfen hier fahren. Morgen suchen wir wieder den alten Parfümeur von Cihangir auf. Ich erzähle Ihnen im nächsten Brief von diesem Besuch und halte Sie über meine Arbeit auf dem Laufenden.
Ich hoffe, die Reise war nicht zu beschwerlich und Ihre Mutter erfreut sich bester Gesundheit.
Passen Sie gut auf sie auf und auch auf sich selbst.
Ich wünsche Ihnen die schönsten Augenblicke in ihrer Gesellschaft.
Ihre Freundin
Alice
Liebe Alice,
Ihr Brief hat genau sechs Tage gebraucht, um zu mir zu gelangen. Der Postbote hat ihn mir heute Morgen, als ich das Haus verließ, gebracht. Das Schreiben muss mit dem Flugzeug gekommen sein, aber der Poststempel lässt nicht erkennen, mit welcher Linie und ob es einen Zwischenstopp in Wien gab. Am Tag nach meiner Ankunft habe ich zunächst in meiner, dann in Ihrer Wohnung geputzt. Ich schwöre Ihnen, ich habe nichts von Ihren persönlichen Dingen angerührt und mich damit begnügt, den Staub zu entfernen, der sich während Ihrer Abwesenheit ungestraft eingenistet hat. Hätten Sie mich sehen können, wie ich mit Schürze und Kopftuch, in einer Hand den Schrubber, in der anderen den Eimer hantierte, Sie hätten mich wieder gnadenlos verspottet. Das tut vermutlich im Moment die Nachbarin ein Stockwerk unter uns, diejenige, die Ihnen mit dem Klavier bisweilen auf die Nerven geht. Ihr bin ich, derart ausstaffiert, im Treppenhaus begegnet, als ich den Müll nach unten trug. Jetzt ist Ihre Wohnung wieder frisch wie der Frühling, der hoffentlich nicht mehr lange auf sich warten lässt. Ihnen zu sagen, dass im Königreich von England feuchte Kälte herrscht, wäre von offensichtlicher Banalität, und obwohl es eines meiner bevorzugten Gesprächsthemen ist, will ich Sie nicht mit dem derzeitigen Wetter langweilen. Sie sollten trotzdem wissen, dass es seit meiner Rückkehr nicht aufgehört hat zu regnen und dass es den Monat davor auch nur geregnet hat, wie ich im Pub erfuhr, in dem ich wieder täglich zu Mittag esse.
Der Bosporus und seine überraschende winterliche Milde kommen mir schon weit entfernt vor.
Gestern bin ich am Themse-Ufer entlanggelaufen. Sie hatten recht, ich habe dort keine Geruchsnuancen vorgefunden, die denen geähnelt hätten, auf die Sie mich während unserer Spaziergänge an der Galata-Brücke aufmerksam gemacht haben. Selbst die Pferdeäpfel scheinen hier anders zu riechen, doch während ich diese Zeilen schreibe, frage ich mich, ob ich das beste Beispiel gewählt habe, um meine Eindrücke zu veranschaulichen.
Ich habe so ein schlechtes Gewissen, dass ich ohne ein Wort des Abschieds abgereist bin, aber mir war an diesem Morgen ein wenig schwer ums Herz. Wer weiß, warum, wer weiß, was Sie in mir ausgelöst haben. Sie werden sich nie vorstellen können, was es bedeutet, ich zu sein, aber auf gewisse Weise sind Sie in dieser letzten Nacht bei unserem Spaziergang durch Istanbul meine
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