Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
und von der Tagesarbeit gebeugten Rücken nach Hause kamen, nach der Nacht über den Lehmwegen, dem Schmutz der Vorstädte, der die Armut dieser Existenzen zudeckte, und es gab bei mir weder Spiritus noch Kreide oder gebohnerte Fußböden. Aber ich beklage mich nicht, meine Eltern waren wunderbare Menschen, was nicht bei allen meinen Kameraden der Fall war. Versprechen Sie mir, Mister Daldry nicht zu verraten, dass mein Englisch sehr viel besser ist, als er glaubt. Es bereitet mir einfach Freude, ihn zu ärgern.«
»Ich verspreche es Ihnen. Sie hätten mich ins Vertrauen ziehen können.«
»Ich glaube, das habe ich soeben getan.«
Die Aufseherin klopfte mit einem Metalllineal auf den Tisch, um sie zum Schweigen zu bringen. Alice richtete sich auf ihrem Stuhl auf und saß kerzengerade da. Als Can das bemerkte, hielt er sich die Hand vor den Mund, um ein Lachen zu unterdrücken. Der Direktor erschien und ließ sie in sein Büro eintreten.
Überglücklich, zeigen zu können, dass er fließend Englisch sprach, ignorierte der Mann Can und wandte sich nur an Alice. Der Fremdenführer zwinkerte seiner Kundin verständnisinnig zu – letztlich zählte nur das Ergebnis. Sobald Alice ihre Bitte vorgetragen hatte, antwortete ihr der Direktor, dass die Schule 1915 noch keine Mädchen aufnahm. Es tat ihm leid. Er begleitete Alice und Can ans Tor und verabschiedete sich, wobei er gestand, er würde gerne eines Tages England besuchen. Möglicherweise würde er die Reise unternehmen, sobald er im Ruhestand sei.
Anschließend begaben sie sich in die Saint-Joseph-Schule. Der Pater, der sie empfing, war ein Mann von strengem Aussehen. Er hörte mit großer Aufmerksamkeit zu, als Can ihm den Grund ihres Besuchs darlegte. Er erhob sich und lief, die Arme auf dem Rücken verschränkt, im Zimmer auf und ab. Dann trat er ans Fenster, um auf den Pausenhof zu schauen, wo sich Jungen balgten.
»Warum müssen sie immer raufen?« Er seufzte. »Glauben Sie, dass die Brutalität der menschlichen Natur innewohnt? Ich könnte ihnen diese Frage im Unterricht stellen, das wäre ein gutes Hausaufgabenthema, finden Sie nicht?«, fragte der Pater, ohne den Blick vom Pausenhof zu wenden.
»Wahrscheinlich«, antwortete Can, »es ist auch eine ausgezeichnete Möglichkeit, sie über ihr Verhalten nachdenken zu lassen.«
»Ich hatte mich mit dieser Frage eigentlich an die junge Dame wenden wollen«, korrigierte der Vorsteher.
»Ich denke, es würde nichts nützen«, antwortete Alice, ohne zu zögern. »Die Antwort erscheint mir offensichtlich. Jungen raufen gerne und, ja, es liegt in ihrer Natur. Aber mit zunehmendem Wortschatz geht die Gewalt zurück. Die Brutalität ist nur die Folge einer Frustration, der Unfähigkeit, die Wut in Worte zu fassen. Also sprechen anstelle von Worten die Fäuste.«
Der Vorsteher musterte Alice. »Sie hätten eine gute Note bekommen. Sind Sie gerne zur Schule gegangen?«
»Vor allem habe ich sie abends gerne wieder verlassen.«
»Das habe ich vermutet. Ich habe nicht die Zeit, Ihre Anfrage zu bearbeiten, und auch nicht genügend Personal, um die Aufgabe zu delegieren. Das Einzige, was ich Ihnen anbieten kann, wäre, dass Sie sich in ein Studierzimmer setzen und ich Ihnen die Verzeichnisse aus dem Archiv zur Durchsicht gebe. Es ist dort natürlich verboten zu sprechen, anderenfalls müssen Sie sofort gehen.«
»Natürlich«, beeilte sich Can zu antworten.
»Auch nun wieder galt die Information der jungen Dame«, sagte der Vorsteher.
Can senkte den Kopf und blickte auf das gebohnerte Parkett.
»Gut, folgen Sie mir, ich werde Sie begleiten. Der Pförtner wird Ihnen die Schülerverzeichnisse bringen, sobald er sie hat. Sie haben bis achtzehn Uhr Zeit, also trödeln Sie nicht. Achtzehn Uhr und keine Minute länger, einverstanden?«
»Sie können sich auf uns verlassen«, antwortete Alice.
»Also gehen wir«, sagte der Vorsteher, während er sich zur Tür seines Büros wandte.
Er ließ Alice den Vortritt und drehte sich zu Can um, der sich nicht von seinem Stuhl bewegt hatte.
»Haben Sie die Absicht, den Nachmittag in meinem Büro zu verbringen oder sich an die Arbeit zu machen?«, fragte er schnippisch.
»Ich wusste nicht, dass Sie sich diesmal auch an mich gewandt haben«, gab Can zurück.
Die Wände im Studierzimmer waren bis auf halbe Höhe grau und dann bis zur Decke, an der zwei Reihen Neonlampen knisterten, in Himmelblau gestrichen. Die Schüler, von denen die meisten hier eine Strafe absaßen, kicherten,
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