Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
Freundin geworden. Sie haben meine Seele berührt, wie es in einem – französischen – Chanson heißt, und Sie haben mich verändert. Wie könnte ich Ihnen vergeben, dass Sie in mir das Verlangen geweckt haben, zu lieben und geliebt zu werden? Auf eine sehr außergewöhnliche Weise haben Sie aus mir einen besseren Maler gemacht, vielleicht sogar einen besseren Menschen. Täuschen Sie sich nicht, das ist meinerseits keineswegs das Eingeständnis verwirrter Gefühle, die ich Ihnen entgegenbringen würde, vielmehr eine ernsthafte Freundschaftserklärung. Solche Dinge darf man sich unter Freunden sagen, nicht wahr?
Sie fehlen mir, liebe Alice, und das Vergnügen meine Staffelei unter Ihr Glasdach zu stellen, ist doppelt groß, da ich von all den Düften umgeben bin, die Sie mich zu erkennen gelehrt haben. Und so spüre ich ein wenig Ihre Präsenz, und sie ermutigt mich, eine gewisse Kreuzung in Istanbul zu malen, die wir gemeinsam studiert haben. Die Aufgabe ist ehrgeizig, und ich habe bereits eine Reihe von Skizzen, die ich zu schwach, zu ungenügend fand, in den Papierkorb geworfen. Aber ich werde geduldig sein.
Passen Sie gut auf sich auf und richten Sie Can meine besten Grüße aus. Nein, richten Sie sie ihm nicht aus, sondern behalten Sie sie ganz für sich.
Daldry
Lieber Daldry,
ich habe soeben Ihren Brief erhalten und danke Ihnen für Ihre großzügigen Worte. Ich muss Ihnen von der vergangenen Woche berichten. Am Tag nach Ihrer Abreise sind Can und ich mit dem Bus in das Viertel Emirgan gefahren. Dort haben wir alle Bildungsanstalten besucht, leider ohne Erfolg. Quasi jedes Mal das gleiche Szenario: ähnliche Schulhöfe, stundenlanges Blättern in den alten Registern, ohne darin meinen Namen zu finden. Bisweilen war der Besuch auch kürzer, weil die Archive nicht mehr existierten oder weil manche Schulen des Osmanischen Reichs noch keine Mädchen aufnahmen. Man könnte fast glauben, meine Eltern hätten mich während unseres Aufenthalts in Istanbul gar nicht eingeschult. Can meint, es wäre vielleicht eine Vorsichtsmaßnahme wegen des Kriegs gewesen. Aber die Tatsache, weder in den Registern des Konsulats noch in denen irgendeiner Schule vermerkt zu sein, warf die Frage auf, ob ich überhaupt existiert habe. Ich weiß, dass solche Gedanken völlig sinnlos sind, und so habe ich gestern beschlossen, diese mühseligen Recherchen einzustellen.
Inzwischen sind wir wieder zu dem Parfümeur von Cihangir zurückgekehrt, und die beiden Tage in seiner Gesellschaft waren weit aufregender für mich als die vorherigen. Dank der hervorragenden Übersetzungen von Can – sein Englisch hat sich seit Ihrer Abreise enorm verbessert – konnte ich ihm all meine Projekte genau erklären. Anfangs dachte der Mann, ich sei verrückt, doch um ihn zu überzeugen, habe ich auf eine kleine List zurückgegriffen. Ich habe ihm von meinen Mitbürgern erzählt, die nicht das Glück haben, Istanbul besuchen zu können, von all denen, die nie die Höhen von Cihangir erklimmen, nie durch die gepflasterten Gassen schlendern, die zum Bosporus hinabführen. Ich habe ihn an all jene erinnert, die nur auf einer Postkarte den silbrigen Schimmer des Mondlichts auf der Wasseroberfläche sehen und niemals das Horn der Dampfschiffe hören, die Kurs auf Üsküdar nehmen. Und ich habe ihm gesagt, dass es wunderbar wäre, ihnen die Möglichkeit zu geben, sich die Magie von Istanbul durch ein Parfüm vorzustellen, das ihnen von all seinen Schönheiten erzählt. Und da unser alter Parfümeur seine Stadt über alles liebt, hat er aufgehört, mich auszulachen, und mir plötzlich all seine Aufmerksamkeit geschenkt. Ich habe auf einem Blatt Papier die lange Liste an Gerüchen notiert, die ich in den Straßen von Cihangir wahrgenommen habe, und Can hat sie ihm dann auf Türkisch vorgelesen. Der alte Mann war sehr beeindruckt. Ich weiß, dass dieses Projekt mehr als ehrgeizig ist, aber ich träume davon, eines Tages in der Vitrine einer Parfümerie von Kensington oder Piccadilly ein Parfümflakon mit dem Namen Istanbul zu sehen. Ich bitte Sie inständig, sich nicht über mich lustig zu machen. Es ist mir gelungen, den Parfümeur von Cihangir zu überzeugen, und ich bedarf jetzt Ihrer ganzen moralischen Unterstützung.
Unsere Herangehensweisen sind unterschiedlich, er denkt nur‘an die Absolues und die Essenzen, ich hingegen gehe die Sache eher wie ein Chemiker an, aber seine Art zu arbeiten bringt mich zum Wesentlichen zurück und eröffnet mir neue
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