Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
als sie Alice und Can auf einer Bank am Ende des Raums Platz nehmen sahen. Der Vorsteher stampfte jedoch mit dem Fuß auf, und sofort herrschte wieder Ruhe, die auch anhielt, nachdem er gegangen war. Der Pförtner ließ nicht lange auf sich warten und brachte zwei schwarze Akten, die mit einem Band verschlossen waren. Er erklärte Can, darin befänden sich alle Informationen über die Aufnahme und die Entlassung der Schüler sowie die Zeugnisse zum Schuljahresende, jeweils nach Klassen geordnet.
Alle Seiten trugen in der Mitte einen Trennstrich, links standen die Namen in lateinischer Schrift, rechts in osmanischer. Can fuhr mit dem Finger jede Zeile entlang und studierte die Verzeichnisse Seite für Seite. Als die Wanduhr siebzehn Uhr dreißig zeigte, schloss er den zweiten Band und schaute Alice bedauernd an.
Sie nahmen jeder eine Akte unter den Arm und gaben sie dem Pförtner zurück. Als sie das Gittertor von Saint-Joseph durchschritten, drehte Alice sich um und grüßte den Vorsteher, der sie von seinem Bürofenster aus beobachtete, mit einer Geste.
»Woher wussten Sie, dass er uns nachschaut?«, fragte Can, während sie die Straße entlanggingen.
»Ich kenne diese Art Direktor von meinem Gymnasium in London.«
»Morgen haben wir Erfolg, da bin ich ganz sicher«, sagte Can.
»Nun, das werden wir sehen.«
Can begleitete sie ins Hotel zurück.
Daldry hatte im Markiz einen Tisch reserviert, aber als sie an der Tür des Restaurants angelangt waren, zögerte Alice. Sie hatte keine Lust auf ein förmliches Abendessen. Die Nacht war mild, daher schlug sie einen Spaziergang am Bosporus vor, statt stundenlang in dem lauten und verqualmten Restaurant zu sitzen. Wenn sie Hunger bekämen, würden sie später sicher ein Lokal finden. Daldry willigte ein, er hatte ohnehin keinen großen Appetit.
Am Ufer gab es außer ihnen noch einige Spaziergänger, drei Angler versuchten ihr Glück und warfen ihre Angeln ins schwarze Wasser, ein Zeitungsverkäufer bot die Morgenausgabe zu Schleuderpreisen an, und ein Schuhputzer bemühte sich, die Stiefel eines Soldaten auf Hochglanz zu polieren.
»Sie sehen sorgenvoll aus«, sagte Alice, während sie zum Hügel von Üsküdar auf der anderen Seite des Bosporus hinüberschaute.
»Mich beschäftigt ein Gedanke, nichts Schlimmes. Wie war Ihr Tag?«
Alice erzählte von den Besuchen, die sie am Nachmittag erfolglos absolviert hatten.
»Erinnern Sie sich an unsere Spritztour nach Brighton?«, fragte Daldry und zündete sich eine Zigarette an. »Auf der Rückfahrt wollten weder Sie noch ich dieser Frau, die Ihnen die Zukunft vorhergesagt und von einer geheimnisvollen Vergangenheit gesprochen hatte, auch nur den geringsten Glauben schenken. Selbst wenn Sie, vermutlich aus Höflichkeit, nichts gesagt haben, dürften Sie sich gefragt haben, warum wir diese unnötigen Kilometer gefahren waren, warum wir den Weihnachtsabend damit zugebracht hatten, in einem schlecht beheizten Auto Schnee und Kälte zu trotzen und auf den vereisten Straßen unser Leben zu riskieren. Aber wie viele Kilometer haben wir seither zurückgelegt? Und wie viele Ereignisse, die Ihnen damals unmöglich erschienen, sind eingetreten? Ich möchte gerne weiterhin daran glauben, Alice, ich möchte weiterhin denken, dass unsere Bemühungen nicht vergebens sind. Das schöne Istanbul hat Ihnen bereits so viele Geheimnisse enthüllt, die Sie niemals geahnt hätten … Wer weiß? In ein paar Wochen treffen Sie vielleicht diesen Mann, der Sie zur glücklichsten Frau der Welt machen wird. Hierzu muss ich Ihnen etwas gestehen, wofür ich mich schuldig fühle …«
»Aber ich bin glücklich, Daldry. Ihnen habe ich eine unglaubliche Reise zu verdanken. Ich quälte mich zuvor an meinem Arbeitstisch herum, hatte wenig Ideen und habe es wiederum Ihnen zu verdanken, dass mein Kopf nun voll davon ist. Es ist mir wirklich gleichgültig, ob sich diese absurde Prophezeiung verwirklichen wird. Um aufrichtig zu sein, finde ich, sie hat eine verabscheuenswerte, um nicht zu sagen vulgäre Seite. Sie zeigt mir ein Selbstbild, das ich nicht liebe, das Bild einer einsamen Frau, die einem Hirngespinst folgt. Und den Mann, der mein Leben verändern wird, habe ich bereits getroffen.«
»Ach ja, und wer ist es?«, fragte Daldry.
»Der Parfümeur von Cihangir. Er hat es mir ermöglicht, mir neue Projekte vorzustellen. Vor ein paar Tagen dort bei ihm habe ich mich getäuscht, ich suche nicht nur nach Raumdüften, sondern nach den Düften
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