Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
zuletzt zu zweifeln begonnen hatte, obwohl dies seit Jahren mein Traumberuf ist. Ich werde Ihnen, ebenso wie dieser Hellseherin, ewig dankbar sein, dass jeder auf seine Weise mich dazu gebracht hat hierherzukommen. Und was die Verwirrung angeht, die mir die Entdeckungen über die Vergangenheit meiner Eltern bescheren … Das ist ein Gefühl der Aufregung, das mir zugleich auch eine von Sehnsucht, Sanftheit, Trauer und Lachen erfüllte Freude beschert. Jedes Mal, wenn ich in London durch die Straße ging, wo wir gewohnt hatten, erkannte ich nichts mehr, weder unser Haus noch die kleinen Läden, die ich mit meiner Mutter aufgesucht hatte, weil alles verschwunden ist. Jetzt weiß ich, dass es noch einen Ort gibt, wo meine Eltern und ich gemeinsam gewesen sind. Die Gerüche der Istiklal-Straße, die Steine der Häuser, die Straßenbahnen und tausend Sachen mehr gehören mir ab nun. Und selbst wenn mein Gedächtnis die Spuren dieser Augenblicke nicht festgehalten hat, weiß ich doch, dass dies alles stattgefunden hat. Abends, wenn ich auf den Schlaf warte, werde ich künftig nicht mehr an ihre Abwesenheit denken, sondern daran, was meine Eltern hier erleben konnten. Ich kann Ihnen versichern, Daldry, das ist schon sehr viel.«
»Aber Sie werden doch nicht darauf verzichten, Ihre Nachforschungen fortzuführen?«
»Nein, das verspreche ich Ihnen, auch wenn mir klar ist, dass es nicht mehr dasselbe sein wird, sobald Sie abgereist sind.«
»Das hoffe ich sehr! Auch wenn ich vom Gegenteil überzeugt bin. Sie verstehen sich prächtig mit Can, und wenn ich auch manchmal so tue, als würde ich mich über Ihr Einvernehmen ärgern, im Grunde freue ich mich darüber. Der Kerl spricht zwar miserabel Englisch, aber er ist, das muss ich doch zugeben, ein unvergleichlicher Fremdenführer.«
»Sie wollten mir vorhin etwas gestehen. Worum ging es da?«
»Vermutlich nichts Wichtiges, denn ich habe es bereits vergessen.«
»Wann verlassen Sie Istanbul?«
»Bald.«
»Sehr bald?«
»Ich fürchte, ja.«
Sie setzten ihren Spaziergang am Ufer fort. Vor der Anlegestelle, wo das letzte Dampfschiff des Abends seine Leinen löste, ergriff Alice Daldrys Hand, die ihre gestreift hatte.
»Zwei Freunde dürfen sich doch bei der Hand fassen, oder?«
»Ich denke, ja«, antwortete Daldry.
»Gut, lassen Sie uns noch ein wenig weitergehen, wenn Sie möchten.«
»Ja, das ist eine gute Idee, gehen wir noch etwas weiter, Alice.«
Kapitel 12
Alice,
ich hoffe, Sie verzeihen mir diese überstürzte Abreise. Ich wollte Ihnen keinen weiteren Abschied zumuten. Jeden Abend, wenn ich Sie vor Ihrer Zimmertür verließ, zerbrach ich mir den Kopf, und die Vorstellung, Ihnen in der Hotelhalle mit dem Koffer in der Hand Lebewohl zu sagen, kam mir irgendwie erbärmlich vor. Ich wollte es Ihnen gestern mitteilen, doch dann habe ich davon abgesehen aus Angst, diese köstlichen Augenblicke in Ihrer Begleitung zu verderben. Ich wollte, dass wir den letzten Spaziergang an den Ufern des Bosporus in Erinnerung behalten. Sie schienen glücklich, und ich war es auch. Was kann man sich mehr vom Ende einer Reise erhoffen? Ich habe in Ihnen eine wunderbare Frau entdeckt und bin stolz, – wie ich hoffe – Ihr Freund zu sein. Für mich sind Sie auf jeden Fall eine Freundin, und dieser Aufenthalt in Istanbul in Ihrer Gesellschaft wird eine der schönsten Zeiten meines Lebens sein.
Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen, dass Sie Ihr Ziel erreichen. Der Mann, der Sie lieben wird, muss sich an Ihren Charakter erst gewöhnen – ein Freund darf Ihnen das sagen, ohne Sie zu kränken, nicht wahr? –, aber er wird an seiner Seite eine Frau haben, deren Lachen alle Unwetter des Lebens vertreibt.
Ich bin glücklich, Sie zur Nachbarin gehabt zu haben, und weiß schon jetzt, während ich Ihnen diese Zeilen schreibe, dass mir Ihre Gegenwart, selbst wenn sie bisweilen geräuschvoll war, fehlen wird.
Gute Reise, Tochter des Cömert Eczaci, suchen und finden Sie dieses Glück, das Ihnen so wunderbar steht.
Ihr ergebener Freund
Daldry
Ethan,
ich habe Ihren Brief heute Morgen gefunden. Den meinen bringe ich am Nachmittag zur Post und frage mich, wie lange er brauchen wird, um bei Ihnen einzutreffen. Als ich das leise Rascheln des Umschlags, den Sie unter meiner Tür hindurchgeschoben haben, hörte, war mir augenblicklich klar, dass Sie im Begriff waren abzureisen. Ich bin zum Fenster geeilt, eben noch rechtzeitig, um Sie ins Taxi steigen zu sehen. Als Sie den Kopf hoben, um zu
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