Die zwei Monde: Roman (German Edition)
Alarmglocken so heftig, dass mir jedes einzelne Haar zu Berge stand. Ich rief den Wolf, ohne auch nur darüber nachzudenken.
In diesem Moment hörte ich ein Quietschen hinter mir und drehte mich um: Ein schwarz gekleideter Mann war durch die Haupttür eingetreten und verschloss sie hinter sich mit einem Schlüssel. Er war groß und kräftig, hatte die Schultern eines Ringers und einen fast kahl rasierten Kopf. Ich hatte ihn noch nie gesehen, aber aus dem Blick, mit dem er mich bedachte, war eindeutig zu entnehmen, dass er sehr wohl wusste, wer ich war.
Mit einem rums! ging auch die weiße Tür auf, und vier Männer betraten mit schnellen Schritten den Raum. Sie waren alle in Schwarz gekleidet und hatten eine Tasche bei sich. Ihren Anführer erkannte ich sofort: Diese Augen, die funkelten wie Obsidiansplitter, hatte ich nicht vergessen. Es war Ivans Vater.
In Windeseile hatten sie mich umzingelt, sie blieben zwar auf Distanz, standen aber in regelmäßigen Abständen in einem vollen Kreis um mich herum. Sie bewegten sich mit der Sicherheit einer Schauspielertruppe, die diese Szene unzählige Male geprobt hat.
»Ivan.«
Ich sah mich panisch nach ihm um: Er stand mit den anderen im Kreis, hatte aber als Einziger den Kopf gesenkt und die Augen zu Boden gerichtet.
»Ivan …«
Auf ein Zeichen ihres Anführers griffen gleichzeitig sechs Hände in die Ledertaschen. Ein Teil von mir erkannte diese Geste als Ritual wieder, das ich viele, viele Male gesehen hatte. Die Luft füllte sich mit einem sehr intensiven, schwindelerregenden Geruch. Mir drehte es vor Angst und Übelkeit den Magen um.
»Ivan!«
Ich spürte die Energie des Wolfes in meinen Adern, mit einer nie da gewesenen Intensität, genährt von Hass und Entsetzen, die aus dem Abgrund der Jahrtausende loderten. Ich kauerte mich zusammen wie eine Sprungfeder und heulte auf, bereit, alles in Stücke zu zerreißen, was sich mir in den Weg stellte.
Aber ich hatte einen Moment zu lange gezögert.
Aus den Ledertaschen tauchten die Hände der Männer mit blauen Blüten auf. Ich taumelte, und mein Heulen verlosch zu einem Brummen. Der Gestank des Eisenhuts traf mich mit voller Wucht, und ich spürte, wie mein Kopf zu glühen begann. Mit einer weit ausholenden Kreisbewegung warfen die sechs Männer die Blütenblätter vor sich auf den Boden, schnell und präzise, bis ich mich im Zentrum eines Blütenkreises befand. Mit der Wucht einer Felslawine traf mich eine unbegreifliche Schwäche und zwang mich in die Knie. Ich drehte den Kopf in alle Richtungen, aber ich war umzingelt: Der Würgling hielt mich in einem unsichtbaren Würgegriff, stärker als jede reale Barriere es gekonnt hätte.
Ich hatte das Gefühl, von innen zu brennen, einem flüssigen Feuer ausgeliefert zu sein, das unter meiner Haut brodelte. Um mich herum psalmodierten die Männer seltsame Gesänge, mit tiefen, monotonen Stimmen, die im Gewölbe der Krypta widerhallten. Ich konnte ein paar lateinische Worte aufschnappen.
Unter Tränen suchte ich nach Ivan: Er stand drei Meter von mir entfernt zwischen den Säulen, den Blick immer noch auf die Erde gerichtet, die geöffnete Hand verloren neben der Hüfte hängend, immer noch ein paar Blütenblätter zwischen den Fingern. Vielleicht hatte er meine Augen auf seinem Körper gespürt, vielleicht war es auch Zufall, dass er jetzt den Kopf hob und wir einander anstarrten: Er weinte. Schweigend zwar, unbeweglich, wie Männer weinen, aber ich konnte ganz deutlich die Tränen sehen, die über seine Wangen liefen.
»Ivan …«
Ich versuchte, seinen Namen auszusprechen, aber es war nur ein abgehacktes Kreischen zu hören. Ich fiel zu Boden, blieb auf einer Seite liegen.
Der Sprechgesang brach ab. Für den Teil von mir, der Veronica war, hatte das keinerlei Bedeutung, aber der Wolf wusste sehr genau, was das hieß: Der Kreis war geschlossen, die Falle zugeschnappt, versiegelt von der Macht des Symbols und heraufbeschworen von den Worten des Rituals. Worte, die der Zeit und dem ewigen Wandel der Welt trotzend über die Jahrhunderte hinweg von Generation zu Generation weitergegeben worden waren, um zu den wenigen Eingeweihten zu gelangen, die sich noch an sie erinnerten.
Ich sah, wie Ivans Vater von Neuem die Hand in die Tasche steckte, etwas hervorzog und die Hülle hinter sich warf. Die anderen taten es ihm nach. Es war nicht nötig, die langen, flexiblen Gegenstände in den Händen der Männer durch meine Tränen hindurch genau zu sehen: Ich erkannte den
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