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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
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Geruch frischen Blutes wieder, das vor wenigen Nächten aus der Kehle eines Opfertiers geflossen war. Ich erkannte das schreckliche Pfeifen des ungegerbten Leders in der Luft. Die Peitschen des Lupercals.
    »Ivan.« Die Stimme eines Mannes, merkwürdig vertraut.
    Ich hob mühsam den Kopf, wobei mich jede Muskelbewegung schmerzte, und sah, wie der Vater den Sohn streng ins Visier nahm. Ivan hielt in der einen Hand noch seine Tasche, während die andere schlaff herunterhing; er hatte keine Peitsche in der Hand.
    »Ivan, was tust du?«
    Ivan hielt weiterhin den Kopf gesenkt, und einen Augenblick später musste auch ich den meinen beugen, niedergedrückt von der Macht des Kreises. Ich schloss die Augen, röchelnd, als würden unsichtbare Hände mir die Kehle zudrücken.
    Die Stimme des Mannes. Ich kannte sie … Wo hatte ich sie nur schon gehört? …
    »Ivan, mach die Tasche auf.«
    Und plötzlich war alles klar.
    Die Nacht, in der ich gebissen worden war; die Erinnerungen des Wolfes, die ich in meinen Träumen durchlebt hatte.
    Der Wolf hatte zwei Stimmen gehört, bevor er in der Gasse über mich hergefallen war: Eine kannte ich damals noch nicht, aber jetzt erkannte ich sie wieder. Männlich, autoritär. Die andere Stimme war mir im Traum vertraut vorgekommen, und doch: Sooft ich sie in den letzten Tagen auch lachen, scherzen, plaudern, meinen Namen rufen gehört hatte, so sehr hatte sich mein Geist mit aller Kraft dem Wiedererkennen verweigert.
    Die Stimme des Vaters und die Stimme des Sohnes.
    Jede Einzelheit glitt an ihren Platz. Die Eisenhutblüte in meinem Rucksack, der Schatten in den Umkleideräumen – verborgen von der Macht, die Sicht zu täuschen – und Ivan, der am selben Tag im Schwimmbad aufgetaucht war und mich angesprochen hatte.
    Ivan, so schön und verführerisch, so selbstsicher, der sich mit Veronica, der schlecht gelaunten Gymnasiastin unterhielt, der ihr den Hof machte, sie einlud, mit ihm auszugehen. Sie küsste. Und sie dann in die Falle laufen ließ, wo die anderen Luperci schon auf der Lauer lagen.
    Es war alles perfekt. Kein Zeuge, niemand, der wusste, wo ich mich befand. Abgesehen von Irene, die aber nur den Vornamen eines Jungen kannte, den sie nie gesehen hatte, und die Adresse einer Krypta, in der sich mit Sicherheit nicht die geringste Spur von mir finden lassen würde. Die Krypta des Mithras, des Herren des Lichts, der die Dämonen bezwang. Sogar der Zeitpunkt war perfekt: der Neumondtag. Sie werden versuchen, dich bei Tag anzugreifen , hatte der Conte gesagt, und das ist alles andere als einfach im Herzen einer großen Stadt . Aber ich hatte mich seelenruhig in die Falle locken lassen, in blindem Vertrauen.
    Einen Moment lang spürte ich die Macht des Kreises nicht mehr, die mich auf die Erde niederpresste. Ich roch weder den beißenden Gestank des Würglings, der mir die Lungen verätzte, noch hörte ich das Knallen der heiligen Peitschen. Ich fühlte nur einen Knacks im tiefsten Punkt meiner Brust.
    »… eine solche Szene zu machen?«, sagte gerade Ivans Vater mit vor Wut schneidender Stimme. »Wir haben keine Zeit zu verlieren!«
    »Nein.« Seine Stimme klang gebrochen und anders als sonst, aber ich erkannte sie trotzdem. »Wir können das nicht tun. Es ist nicht richtig.«
    » Was?! « Der Aufschrei des Vaters donnerte von einem Ende der Krypta zum anderen, und ich merkte, wie die anderen Luperci unruhig wurden. »Du weißt, dass es getan werden muss !«
    Ich kniff die Augen zusammen und presste die Stirn an den Boden. Ich wollte nur eins: nichts mehr sehen, nichts mehr hören, mich in das Nichts auflösen, das ich schon in mir hatte, und einfach aufhören, zu existieren.
    »Sie ist nur ein Mädchen, sie hat nichts Schlimmes getan …«
    »Und sie wird auch nichts tun, wenn wir sie vor dem Vollmond noch aufhalten! Jetzt reiß dich zusammen und zieh deine Peitsche heraus! «
    Ich hörte Ivans Stimme, so angespannt wie eine Gitarrensaite kurz vorm Zerreißen. »Sie wird nicht überleben, wenn wir den Wolf verjagen! Niemand überlebt das, nach all diesen Tagen …«
    »Und dennoch muss es getan werden ! Denkst du, es bereitet mir Vergnügen , das zu tun? Denkst du, dass jemand unter uns glücklich darüber ist, ein Menschenleben zu opfern für die Rettung von vielen anderen? Wir müssen es tun! So ist es immer gewesen: Jemand muss es tun, und heute liegt diese Verantwortung bei uns.« Ich hörte das Knallen des Leders auf dem steinernen Fußboden. »Los jetzt, nimm deine

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