Die zwei Monde: Roman (German Edition)
müde, erschöpfte Stimme gewesen. Vielleicht hatte sie sogar leidend geklungen. Ging es ihm etwa schlecht? War ihm etwas Schlimmes passiert?
Mir wurde plötzlich bewusst, dass sein Vater und die anderen Luperci ihm das, was er getan hatte, nicht einfach so durchgehen lassen konnten; bis zu diesem Moment hatte ich mir darüber keine Gedanken gemacht. Ich hatte ihn allein in den Händen dieser Verrückten gelassen. Ich spürte, wie mir das Herz in die Hose rutschte.
Ich musste zum Conte. Er war der Einzige, der Bescheid wusste und der vielleicht etwas unternehmen konnte. Ich hatte ihn seit fünf Tagen nicht gesehen: Vielleicht war es ihm wirklich gelungen, etwas mehr über die Luperci in Erfahrung zu bringen. Aber auf jeden Fall würde er mir sagen können, was ich tun sollte.
Ich schnappte meine Lederjacke und schob meiner Mutter gegenüber den Comicladen vor, in dem ein ganzer Stapel für mich bereitliegen würde, da ich seit zwei Wochen nicht dort war. Was sogar stimmte. Aber die Comics mussten warten.
Es war schon fast Abend, als ich vorm Haus des Conte stand und wie immer die Tür vor mir aufging. In seinem vollgestopften Salon stand schon der Tee bereit, und dem Duft nach zu urteilen, waren die Nussplätzchen gerade erst aus dem Ofen gekommen. Obwohl auch die Wohnungstür offen gewesen war, war niemand zu sehen. Ich hängte meine Lederjacke an den üblichen Kleiderhaken und sah mich um; es war das erste Mal, dass ich in dieser surrealen Umgebung allein war.
Ich ging an dem Regal mit den Fossilien entlang und studierte die kleinen Skelette hinter der Glastür, ließ es aber bald, weil mir die blinden Augenhöhlen und die winzigen, zu einem ewigen Grinsen festgefrorenen Mäuler unheimlich waren.
Auf einer Konsole neben der Tür gab es eine kleine Ausstellung von Trockenblumen, die zwischen Glasplättchen gepresst waren. Aus der Nähe betrachtet, sahen sie gar nicht aus wie getrocknet, eher wie frisch gepflückt, als ob der Graf sie erst an diesem Nachmittag unter Glas gelegt hätte.
Auf derselben Konsole stand auch ein Glas mit zwei abgeschnittenen Blumen. Die Flüssigkeit, in die ihre Stiele versunken waren, war zäh und schwarz: Ich hatte keine Ahnung, worum es sich bei der dunklen Tunke handeln könnte, aber ich mochte sie nicht. Eine der beiden Blumen war ein Edelweiß, größer und leuchtender, als ich es je gesehen hatte; ich streckte den Finger nach seiner samtenen Oberfläche aus, hielt dann aber instinktiv inne.
Die andere Blume war ein winziges weißes Vergissmeinnicht, das ich sofort wiedererkannte. Sie schien lebendig und frisch wie alle anderen, dabei war das Vergissmeinnicht, das ich vom Gehsteig aufgehoben und mit in mein Zimmer genommen hatte, im Nu verwelkt gewesen.
»Willkommen.«
Ich hätte damit rechnen müssen, fuhr aber doch zusammen. Der Graf stand hinter mir und war wie üblich aus dem Nichts aufgetaucht. Ich folgte seinem Blick zur Konsole und auf das Edelweiß.
»Vor langer Zeit, nördlich von hier, in den Bergen«, begann er in vertrautem Ton, »lebte ein junger Mann, der ein gutes Herz und bemerkenswerten Mut, aber wenig Geld hatte. In seinem Dorf gab es ein Mädchen, reich, blond, wunderschön und überaus hochmütig, kurzum, eines dieser Geschöpfe, an denen es in keiner Epoche – am wenigsten in der unseren – gefehlt hat.«
Ich dachte an das dreifache Beispiel, das ich an jedem Schultag vor der Nase hatte, und nickte mit Überzeugung.
»Der junge Mann war natürlich verliebt in das Mädchen, und selbstverständlich wies sie ihn erbarmungslos ab, da sie nicht die geringste Absicht hatte, sich an jemanden zu binden, der lediglich reich an Herz und Mut war. Aber wenn man jung ist, ist die Liebe hartnäckig und kennt keine Vernunft, und der junge Mann gab sich nicht geschlagen. Schließlich versuchte das Mädchen, ihn mit der folgenden Herausforderung loszuwerden: ›Wenn du willst, dass ich dir mein Herz schenke, dann bring mir zum Tausch das, was keine andere Frau je zum Geschenk erhalten hat: Bring mir die Blume des Lebens und des Todes, die Blume, die aus den Sternen geboren ward, die in früheren Zeiten auf den Gipfel des Berges gefallen sind, wie die alten Geschichten erzählen.‹ Er erwiderte, dass er ihren Wunsch erfüllen werde, und machte sich noch am selben Tag auf den Weg, während seine Angebetete einen Seufzer der Erleichterung ausstieß: Mit ein wenig Glück würde ihr Verehrer in eine Felsspalte stürzen und sterben, oder er würde sich in der Nacht
Weitere Kostenlose Bücher