Die zwei Monde: Roman (German Edition)
überreizte Fantasie habe und dass die beste Behandlung für mich sei, weniger Comics zu lesen und mehr an die frische Luft zu gehen.
Das war nämlich ihr Problem: Sie konnte einfach nie irgendetwas ernst nehmen! Für sie war alles ein Spiel, das Leben war bunt wie ein indisches Kleid, von Weihrauchduft erfüllt und voller schöner und gesunder Dinge wie Yoga und Bergwanderungen. Wenn ich sie draußen im Flur singen hörte, hatte ich in so manchem Moment Lust, sie zu ohrfeigen, oder noch besser, mich auf und davon zu machen. Ja, das wär’s gewesen: Mit einem Seil aus aneinandergeknüpften Betttüchern aus dem Fenster klettern wie ein Strafgefangener auf der Flucht und mein ganzes Leben einfach hinter mir lassen.
Mein Vater war als Gesprächspartner ebenso wenig eine Option wie meine Mutter, wenn auch aus diametral entgegengesetztem Grund: Er war ein schweigsamer Kauz, und selbst während des Streits von heute Morgen beobachtete er mich, meine Mutter und die ganze Welt, als hätte er etwas vor Augen, von dem er nicht viel verstand, was ihn aber auch nicht besonders interessierte. In letzter Zeit nahm er mich öfter ins Visier als sonst, jedes Mal, wenn ich ihn ansah, begegnete ich seinem rätselhaften Blick.
Mich einem Psychologen, Sozialarbeiter oder sonst jemandem in dieser Richtung anzuvertrauen, war genauso ausgeschlossen. Ich hatte noch nie einen Seelenklempner persönlich getroffen, nicht einmal die Mutter von Irene: Über das Thema wusste ich praktisch nur das, was in Filmen oder Fernsehserien zu sehen war. Verständlich also, dass ich ihnen wenig oder gar nicht traute. Meine Schilderungen von unsichtbaren Männern und blutigen Träumen wären sicherlich Anlass gewesen, in meiner Vergangenheit nach verborgenen Traumata zu suchen (die es natürlich gar nicht gab), oder meiner Familie vorzuschlagen, mich unter Psychopharmaka zu setzen. Nein, danke: Mir reichten wirklich die Probleme, die ich sowieso schon hatte.
Es blieben also nur wenige Alternativen, oder besser, es blieb eine einzige: Irene. Sie wusste sowieso schon, dass in letzter Zeit etwas mit mir nicht stimmte, sie hatte sich mehr als einmal angeboten, sich meine Geschichte anzuhören, und vielleicht mochte sie mich auch so gern, dass sie mich nicht für eine Verrückte halten würde.
Aber Irene war nicht da, und so blieb mir nichts weiter übrig, als meine Geheimnisse hinunterzuschlucken, wo sie mir bleischwer im Magen lagen.
Ich verbrachte einen stummen und endlosen Vormittag: eine Stunde Geschichte, eine Naturwissenschaft, zwei Italienisch und schließlich eine Stunde Sport, in der wir überwiegend Volleyball spielten – und ich mit grottenschlechter Leistung aufwartete. Normalerweise war ich gar nicht so übel, aber heute stand ich völlig neben mir: Statt den Ball zurückzupritschen, schaffte ich es tatsächlich, ihn ins Gesicht zu kriegen und wenig später auch noch über meine eigenen Füße zu stolpern, womit ich die Niederlage meines Teams besiegelte. Sicher, die Tatsache, dass Giada, die mit mir in einer Mannschaft spielte, unfähig schien, mir auch nur einen einzigen anständigen Ball zuzuspielen, war nicht gerade eine große Hilfe. Wobei ich allerdings den deutlichen Eindruck hatte, dass ihr das Zuspiel bei den anderen sehr wohl gelang.
Angela und Elena gehörten logischerweise zur gegnerischen Seite. In blindem Verständnis spielten sie einander die Bälle so perfekt zu, als hätten sie eine telepathische Verbindung. Elena, groß und flink, wie sie war, hatte überdies einen mörderischen Aufschlag: Es wäre leichter gewesen, mit bloßen Händen einen Meteoriten zu stoppen.
Am Ende der Stunde war ich erschöpft, durchgeschwitzt, nervöser denn je und hatte überall Schmerzen, sodass die Klingel eine wahre Befreiung war. Ich riss mir die Sportklamotten vom Leib, zog meine Sachen wieder an – ja, es waren dieselben wie schon in den letzten zwei Tagen –, und raste die Treppe hinunter. Ich war völlig am Ende und wollte nur noch nach Hause, mich in mein Zimmer einschließen und eine Woche lang keinen mehr sehen!
In der Eingangshalle angekommen, entdeckte ich inmitten der lärmenden Schülerhorden schon wieder die drei Heldinnen, die mit drei anderen Mädchen tuschelten, von denen eine Giada war. Es waren keine Jungs dabei und vor allem kein Alex, dem ich zwischenzeitlich ständig in ihrer Gesellschaft begegnete, auch wenn ich mich dauernd dazu zwang, woanders hinzusehen und an andere Dinge zu denken. Irgendwelche anderen
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