Die zwei Monde: Roman (German Edition)
Abendessens auf ihre letzte Reise warteten, egal ob sie nun in meinen Magen oder in den Mülleimer gehen würde. Nein, sie waren wirklich nicht dazu angetan, mir Appetit zu machen.
Ich stieg aus dem Bett: Der Boden war eiskalt. Auf Zehenspitzen durchquerte ich den Flur und glitt in die Küche. Ohne das Licht anzumachen, ging ich zum Kühlschrank und nahm ein Joghurt heraus, dann tastete ich im Dunkeln nach der Besteckschublade und bewaffnete mich mit einem Löffel.
Neben dem kleinen Küchenfenster stand ein hoher und schmaler Barhocker, den meine Mutter kurz nach unserem Einzug gekauft, hier abgestellt und seitdem ignoriert hat. Es setzte sich nie jemand darauf, weil er abseits stand und unbequem war, aber in diesem Moment war es der einzige Sitzplatz, der sich nicht im Dunkeln befand: Das danebenliegende Fenster war kleiner als die anderen Wohnungsfenster, es ging zum Innenhof, hatte keine Fensterläden und ließ durch den dünnen Vorhang etwas Licht herein. Ich kletterte auf den Sitz und tauchte den Löffel in meinen Becher.
Draußen wütete weiter der Wind, und von der Türschwelle her zog es mit einem pfeifenden Geräusch; kein besonders toller Platz für einen nächtlichen Imbiss. Besser, ich kehrte ins Zimmer zurück.
Schon mit einem Fuß auf dem Boden, schob ich den Vorhang zur Seite, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen: In den anderen Wohnungen war alles dunkel, und die einzigen Lichter kamen von den Lämpchen unten im Hof. Die Wasseroberfläche des kleinen Teichs, die im Halbdunkel aussah wie ein schwarzer Ölfleck, zitterte und kräuselte sich, wenn der Wind darüberzog. Ich fragte mich, ob sich das für die Fische wie ein Erdbeben anfühlte.
Um das Wasser herum bewegten sich die Büsche in fast gewaltsamen Zuckungen. Ich musste an einen Zwinger mit seltsamen, haarigen Tieren denken, die sich gegen die Tatsache aufbäumten, in einen Käfig gesperrt zu sein. Und dann war da noch was, ziemlich in der Mitte, etwas Weißes, das sich unter den Peitschenhieben des Windes nicht bewegte.
Ich stieg vom Hocker und zog den Vorhang ganz zur Seite. Ich brauchte mehrere Sekunden, bis ich realisierte, dass es sich um eine weiße Schürze handelte, aber nur eine Sekunde, um sie wiederzuerkennen: Dort unten, auf dem Mäuerchen, unter den Hieben des Windes, saß das Mädchen mit den Blumen im Haar.
In der Zeit, die ein Herzschlag dauert, rasten tausend Gedanken durch meinen Kopf. Sie wusste, wo ich wohnte. Sie war mir bis hierher gefolgt. Mitten in der Nacht. Sie saß dort, wo ich sie sehen konnte, wie schon die anderen Male, und wartete. Und zwar wartete sie auf mich.
Ich traf keinerlei Entscheidung, jedenfalls nicht bewusst. Aber fünf Sekunden später war ich in meinem Zimmer und zog mich in Blitzgeschwindigkeit an. In jedem anderen Moment wäre ich auch im Schlafanzug hinuntergegangen, aber nicht in einer Nacht wie dieser.
Bevor ich die Wohnung verließ, schaute ich von Neuem aus dem Küchenfenster: Der Wind hatte sich beruhigt, aber sicher nur für eine kleine Weile, und das Mädchen war immer noch da. Ich schlüpfte lautlos in den Gang hinaus, nahm meine Jacke und den Schal von der Garderobe, drehte den Schlüssel mit äußerster Vorsicht im Schloss und öffnete die Tür, die dabei ein gefährliches Quietschen von sich gab.
Ich hielt den Atem an, aber es drang kein Geräusch an mein Ohr. Ich wartete fünf Sekunden, dann schloss ich ganz leise die Tür hinter mir.
Bei jedem Treppenabsatz, den ich hinter mir ließ, wurde ich aufgeregter. Da war etwas, das nicht stimmte da draußen, etwas, das absolut nicht an seinem Platz war: Eine deutliche Vorahnung pulsierte in den Tiefen meiner Brust und durchflutete mich in immer größeren Wellen.
Unten im Flur hantierte ich ein paar Sekunden mit meinem Schlüsselbund und suchte den richtigen Schlüssel zum Innenhof. Draußen war der Wind wieder stärker geworden, sodass sogar die kleinen Laternen schwankten. Ich suchte im Gebüsch, das mit seinem Zischeln mehr denn je an wild gewordene Tiere erinnerte, nach dem Mädchen. Aber sie war verschwunden.
Ich unterdrückte einen Fluch. Nein, nein, nicht schon wieder!
Ich rannte durch den Innenhof, setzte meinen Körper den Windstößen aus, die mich immer wieder abdrängten, und durchquerte den engen Bogengang zur Straße: Die Windschutzscheiben der wenigen, am Gehweg geparkten Autos reflektierten das matte Licht der Straßenbeleuchtung. Ich hatte mich noch nie spät in der Nacht auf den Straßen Mailands
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