Die zwei Monde: Roman (German Edition)
umbringen! Warum lernst du nicht endlich, anständig zu grüßen, wenn du nach Hause kommst?«
»Entschuldige.« Ich trat neben sie und hielt ihr meine Wange für einen Begrüßungskuss hin. »Und, kennst du sie?«
»Was soll ich kennen, Schatz?«
»Eine glockenförmige Blume, in etwa so groß.« Ich zeigte ihr die Größe mit den Fingern. »Violett. Oder nein, irgendwas zwischen Violett und Blau.«
Zu den Marotten meiner Mutter gehörten natürlich auch die Themen Heilpflanzen und Naturmedizin: Sie hatte eine kleine Bibliothek zu diesem Thema im Haus und konnte daraus unendlich viele Informationen hervorkramen.
»Die Beschreibung ist etwas vage, Schatz. Eine zu groß gewachsene Glockenblume vielleicht?« Sie kicherte.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, sie sah anders aus als eine Glockenblume … Warte mal.«
Ich nahm einen Block und einen Bleistift aus der Schublade im Küchentisch und versuchte, die Form der Blüte zu reproduzieren. Ich habe ein gewisses Zeichentalent, und nach ein paar Versuchen schien sie mir tatsächlich ganz gut gelungen. Meine Mutter lugte über meine Schulter auf das Blatt.
»Da, siehst du? Sie hatte so ein kurzes, breites Rohr mit einer runden Spitze, nach vorn gebogen, ein bisschen wie eine Kapuze.«
Sie runzelte die Stirn. »Was für eine Farbe, hast du gesagt?«
»Zwischen Dunkelblau und Violett. Und sehr schön.«
Ich dachte an den instinktiven, fast elementaren Ekel, den mir ihr Anblick beschert hatte. Schön? In dem Moment war sie mir als die schrecklichste Sache erschienen, die ich je vor Augen gehabt hatte. Aber tatsächlich war sie wirklich schön gewesen …
»Das hört sich nach Aconitum an.«
»Wie heißt das?«
» Aconitum napellus , der Blaue Eisenhut. Die Form ist unverwechselbar: Die alten Römer nannten ihn ›Helm des Jupiter‹ und die Germanen ›Helm des Odin‹.«
»Ist das eine ganz normale Blume?«
Meine Mutter schüttelte den Kopf. »O nein, ganz bestimmt nicht: Es ist eine der giftigsten Pflanzen, die in unseren Breitengraden wachsen. Die alten Römer zum Beispiel haben sie zermahlen und ihre Kriegspfeile damit vergiftet. Wo hast du denn eine gesehen?«
Ich hatte die Frage erwartet und eigentlich vorgehabt, ihr zu sagen, dass ich sie in irgendeinem Blumenladen gesehen hatte, aber das schien mir nun keine gute Idee mehr.
»Im Fernsehen.«
»Falls du je eine vor der Nase hast – was hier bei uns allerdings so gut wie ausgeschlossen ist, außer du gehst in die Berge –, dann fass sie nicht an und komm bloß nicht auf die Idee, sie zu pflücken.«
Mir war plötzlich ganz kalt. »Reicht es denn, sie anzufassen, um vergiftet zu werden?«
»Nein, normalerweise nicht.« Sie lächelte. »Aber warum sollte man’s riskieren?«
Sie kehrte an den Herd zurück, und ich verschwand in mein Zimmer. Ich schaltete den Computer an und googelte im Internet nach »Blauer Eisenhut«: Die Bilder überzeugten mich. Das war die Blume, die ich gesehen hatte. Ich studierte den betreffenden Wikipedia-Eintrag: Was meine Mutter gesagt hatte, stimmte, aber ich erfuhr noch einiges mehr. Wie fast alle natürlichen Gifte findet der Blaue Eisenhut auch Anwendung in der Medizin, aber in früheren Zeiten verwendeten ihn vor allem Mörder und Krieger mit wenig ritterlichem Geist: Ihre Opfer starben einen Erstickungstod, bei dem sich ihre Kehle im Krampf so stark zusammenzog, dass sie keine Luft mehr bekamen. Auch um vergiftete Happen für Tiere herzustellen, hatte man die Pflanze in der Vergangenheit benutzt. Deshalb nannte man sie auch »Würgling«.
Das Wort traf mich wie ein Faustschlag.
Würgling.
Ich hatte keine Ahnung, warum, aber schon allein bei dem Gedanken, schon allein beim Klang dieses ungewöhnlichen Wortes wurde mir schwindelig. Ich konnte nicht mehr stillsitzen und tigerte eine Weile unruhig durch mein Zimmer, bevor ich die Lektüre fortsetzte.
Ich las auch, dass ein paar seltene Fälle von Vergiftungen bekannt geworden waren, bei denen jemand die Pflanze einfach nur in der Hand gehalten hatte; aber es handelte sich dabei immer um den Kontakt mit dem Sekret der Blätter oder der Wurzeln, in dem das Gift enthalten war, nicht mit der Blüte selbst. Außerdem gab es im Hinblick auf die Symptome keine Parallelen zu meiner seltsamen »Verbrennung«.
Aus der Küche war die Stimme meiner Mutter zu hören: »Das Abendessen steht auf dem Tisch!«
Beim Ausschalten des Computers wurde mir bewusst, dass ich mehr Fragen hatte als zuvor und keine einzige wirkliche Antwort.
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