Die zwei Monde: Roman (German Edition)
Aber die wichtigste Frage war im Moment: Wie zum Teufel war diese Blume in meinen Rucksack gekommen?
Tatsächlich hätte jeder in der Damenumkleide den Reißverschluss aufmachen und sie hineinstecken können: Mein Rucksack hatte frei zugänglich im Regal gelegen. Aber warum sollte jemand so etwas tun?
Mir fielen die seltsamen Gestalten wieder ein, die in letzter Zeit beschlossen hatten, meine Tage zu bevölkern. Schwarze Schattenmänner. Mädchen mit Blumen im Haar. Bettler mit Schlangenaugen.
Auf dem Weg von meinem Zimmer zur Küche machte ich alle Lichter an.
K apitel 8
Freitag, 13. Februar
Abnehmender Mond
A m Tag danach erwartete mich in der Schule eine böse Überraschung: Irenes Platz war leer. Der perfekte Start in einen Freitag, den Dreizehnten.
Tatsächlich war ihre Abwesenheit nicht weiter verwunderlich: Sie glänzte noch mehr durch Fehltage als durch mittelmäßige Noten. In den fünf Monaten, die ich sie kannte, hat sie gut ein Dutzend Mal gefehlt. Asthmaanfälle, anämische Krisen, Saisongrippen … Es gab nichts, was sie nicht hatte. Aber heute versetzte mich der Anblick ihres leeren Stuhls so sehr in Panik, dass ich den Wunsch unterdrücken musste, auf dem Absatz kehrtzumachen und schnurstracks wieder nach Hause zu gehen. Es fühlte sich an, als hätte mir plötzlich jemand den Boden unter den Füßen weggezogen.
Nie zuvor war mir so bewusst geworden, wie wichtig meine beste Freundin für mich geworden war …
Okay, unnötig, sich was vorzumachen: meine einzige Freundin.
Ich zog mein Handy aus der Tasche und schickte ihr eine SMS . Sie antwortete mir kaum eine Minute später und schrieb, dass ich mir keine Sorgen machen sollte: Am Vorabend war ihr Blutdruck gesunken und sie hatte es am Morgen nicht geschafft, sich auf den Beinen zu halten. Sie versicherte mir aber, dass alles im grünen Bereich sei – für ihre Verhältnisse, versteht sich – und morgen alles vergessen wäre.
Mein gestriger Abend war genauso wenig erinnernswert gewesen: Nach dem Abendessen hatte ich eine halbe Stunde ferngesehen, dann ein Manga unter der Bettdecke gelesen und schließlich eine höllische Nacht mit zerknautschten Bettlaken, atemlosem Herumgehetze, fernen Schreien und mondbeschienenen Wäldern verbracht.
Die morgendliche Übelkeit, bedingt durch Schlafmangel, war dabei, meine ständige Begleiterin zu werden, und langsam war ich mit den Nerven völlig am Ende. Beim Frühstück war ich wegen der ewigen Nörgeleien über mein ungesundes Aussehen so auf meine Mutter losgegangen, dass ich selbst erschrocken war. Ihre diesbezüglichen Vorträge waren alles andere als eine Neuigkeit, ich musste sie mir jeden zweiten Tag anhören und hatte seit Jahren gelernt, auf Durchzug zu schalten; aber heute Morgen nicht. Ich starrte ohne den geringsten Appetit auf meinen Teller mit Keksen, während ihre Papageienstimme von Sekunde zu Sekunde lauter und schriller wurde, bis ich schließlich ausgeflippt war. Ich war mit einem Satz aufgesprungen, hatte dabei den Stuhl umgestoßen und geschrien, dass ich den Kram nicht mehr hören könnte. Wenn ich ihr, so wie ich war, nicht passen würde, dann sollte sie sich doch eine Tochter suchen, die ihrer Vorstellung von einem »gesunden und ausgewogen ernährten Kind« entsprach. Mit schlagenden Türen war ich nach draußen gestürmt, während sie mir noch hinterherrief: »Nica! Nica!«
Es regnete zwar nicht, aber der Himmel war immer noch asphaltgrau und es fegten eiskalte Böen durch die Straßen. Ich versuchte mich durch meinen Schal vor dem Wind zu schützen und stapfte die Straße entlang. Widerwillig dachte ich darüber nach, ob sie nicht im Grunde recht hatte. Seit mindestens zwei Tagen hatte ich nicht mehr in den Spiegel gesehen: Ich war sowieso schon deprimiert genug, und mein Spiegelbild hätte meine Stimmung sicherlich nicht heben können.
Ein Teil meines Gehirns versuchte mich hartnäckig daran zu erinnern, dass ich dringendere Probleme hatte als mein Aussehen: An erster Stelle herauszufinden, ob ich dabei war, irrsinnig zu werden, und ob die Dinge, die ich angefangen hatte zu sehen, real waren oder nicht. Ehrlich gesagt hätte ich nicht sagen können, welche der beiden Möglichkeiten mir mehr Angst machte.
Aber mit wem sollte ich darüber reden?
Mit meiner Mutter bestimmt nicht: Im besten Fall hätte sie versucht, mich durch Zen-Meditation zu therapieren, und im schlechtesten hätte sie mir einen Klaps auf die Wange gegeben und gesagt, dass ich eine lebhafte und
Weitere Kostenlose Bücher