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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
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unschuldigen Toten‹«, fuhr der Mann fort. »Früher einmal hat man gedacht, dass es sich um christliche Märtyrer handelte, um die Opfer eines Blutbads, das von arischen Ketzern im vierten Jahrhundert verübt wurde. Aber das ist nur eine Legende.« Er schwieg einen Moment. »Es sind auch viele Knochen von Gefangenen hier. Gefangene, die in ihrer Zelle gestorben oder hingerichtet worden sind. Man hat sie im Jahre 1622 hierhergebracht, als der Gefängnisfriedhof voll war.«
    Was für ein tröstlicher Gedanke. »Und du, kommst du auch hierher, um zu beten?«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich komme, um die Stimmen der Toten zu hören.«
    Ich blieb noch ein Weilchen stehen, ohne mich zu rühren, dann setzte ich mich wieder hin.
    »Die Stimmen der Toten«, wiederholte ich.
    »Ja.«
    »Und was sagen sie?«
    »Viele Dinge. Hör mal.«
    Meinte er das ernst? Ich sah ihn an. Ja, er meinte es ernst.
    Ich schwieg und lauschte aufmerksam. Ein paar Sekunden lang schloss ich sogar die Augen. Es herrschte vollkommene Stille.
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Gib mir die Hand.« Er hielt mir die seine hin, die Handfläche nach oben.
    Ich zögerte, dann legte ich meine darauf. Ich weiß nicht warum, aber ich hatte erwartet, dass seine Finger kalt sein würden: Aber das waren sie ganz und gar nicht.
    Es begann nicht sofort: Die Stille dauerte noch einige Sekunden an. Dann füllte sich die Luft mit einem Rauschen, ähnlich dem leisen Summen von unzähligen Insektenflügeln, zunächst kaum wahrnehmbar, dann immer deutlicher.
    Ich riss die Augen auf und erkannte, dass es kein Summen war: Es waren Stimmen. Ein Chor aus murmelnden und flüsternden Stimmen, die einander überlagerten, Stimmen von Männern, von Frauen, von Kindern, einige ruhig und tief, andere aufgeregt und drängend. Sie schwirrten um mich herum, vermischten sich, übertönten sich gegenseitig in einem Durcheinander, das immer mehr an Lautstärke zunahm, bis …
    Ich machte einen Satz nach hinten, hielt mir die Ohren zu und stolperte aus der Bank.
    »Basta! Basta!«
    Bevor ich mir dessen überhaupt bewusst wurde, rannte ich nach draußen, den Gang mit den Votivbildern entlang, ohne auch nur ein einziges Mal stehen zu bleiben, bevor ich draußen an der frischen Luft war. Ich lehnte mich an die Mauer und wagte kaum, zu atmen. Um mich herum war nun nichts weiter als der gedämpfte Verkehrslärm der Stadt zu hören.
    Ich suchte den Platz und die Grünflächen nach dem Mädchen mit den Blumen im Haar ab. Regina war nirgends zu sehen.
    Neben mir trat auch der Mann ins Freie, meinen Rucksack in der Hand, den ich in der Aufregung auf der Bank vergessen hatte. Erst jetzt bemerkte ich, dass er sehr groß war.
    Er stellte den Rucksack auf den Boden zu meinen Füßen. »Ich bitte dich um Verzeihung: Das war unvorsichtig von mir. Du warst nicht vorbereitet.«
    Ich schluckte. »Und was soll ich jetzt tun? Sag mir, was ich tun soll, damit du auf meine Fragen antwortest.«
    »Wir könnten ja damit anfangen, dass wir uns vorstellen.«
    »Veronica.« Ich gab ihm nicht die Hand. »Veronica Meis.«
    »Conte Giuseppe Gorani.«
    Ich hätte beinahe losgelacht. Wenn er mir gesagt hätte, er sei Graf Dracula oder Graf von Cagliostro höchstpersönlich, hätte ich mich auch nicht mehr gewundert. Er aber blieb ruhig und gefasst wie zuvor und schien überhaupt nicht zu Scherzen aufgelegt zu sein.
    »Ein echter Conte, ein Graf?«
    »In Fleisch und Blut und mit Adelsbeweis, den ich allerdings unglücklicherweise in irgendeinem Koffer eingesperrt habe, welcher seit meinem letzten Umzug unausgepackt herumsteht.«
    Diesmal musste ich lächeln, auch wenn mir eigentlich gar nicht danach war. »Es tut mir leid.«
    »Was?«
    »Ich weiß nicht … Dass ich Sie geduzt habe?«
    Auch er lächelte: ein echtes Lächeln, nicht nur der Schatten davon, der ihm bis zu diesem Moment um die Lippen gespielt hatte. »Es ist wohl wahr, dass mir dies höchst selten geschieht, in diesen Zeiten.« Er zeigte mit dem Finger mehr oder weniger in Richtung Dom. »Meine Familie besaß einen Palazzo zehn Minuten Fußweg von hier. Ich habe ihn im Jahre 1669 von den Grafen Crivelli erworben und fast vollständig wieder aufgebaut; die Mauern waren mit Steinen aus dem kaiserlichen Mailand errichtet worden, Steine, die über tausend Jahre alt waren.« Er stieß einen leisen Seufzer aus. »Durch die Bomben der Amerikaner wurde er im Jahre 1943 dem Erdboden gleichgemacht. Heute befindet sich dort ein Parkplatz.«
    Ich wusste nicht, was ich

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