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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
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Schädel mit leeren Augenhöhlen –, und darüber drei Glasschaukästen: Zwei von ihnen enthielten ebenfalls Knochen, die in der Mitte den Kopf einer Statue, der wohl einem Christus mit aufgerissenen Augen gehörte, wahrscheinlich ein Überbleibsel von einem alten Kruzifix. So im Schaukasten ausgestellt wirkte es jedoch wie ein völlig realer, abgetrennter menschlicher Kopf.
    Mir schwindelte, und ich musste mich setzen. Ich stellte meinen Rucksack auf die Bank, schlug die Hände vors Gesicht und atmete tief durch, schreckte jedoch gleich wieder auf, als ich jemanden eintreten hörte. Es war eine alte Frau mit südamerikanischen Zügen: Sie kniete sich in dieselbe Bank, in der ich mich befand, blieb einige Sekunden ins Gebet vertieft, stand dann wieder auf, zog etwas Kleines und Weißes aus ihrer Tasche, näherte sich einem Gitter und steckte den Gegenstand in die Augenhöhle eines Schädels, indem sie ihn mit den Fingern durch ein Loch im Gitter hindurchdrückte. Dann bekreuzigte sie sich und ging wieder hinaus.
    Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Bank. Ich konnte einfach nicht glauben, was ich da sah. Wo befand ich mich eigentlich? Warum hatte meine Führerin mich an diesen surrealen Ort gebracht?
    Eine Bewegung zu meiner Rechten ließ mich zusammenzucken. Nur einen Meter von mir entfernt saß ein Mann, den ich nicht bemerkt hatte, obwohl wir die einzigen beiden Menschen in der Kapelle waren.
    Ich sah ihn mit großen Augen an, und er erwiderte meinen Blick. Es war schwierig, zu sagen, wie alt er war: Eigentlich hätte ich ihn jünger geschätzt als meinen Vater, wenn auch nicht viel; oder vielleicht viel jünger, aber mit einer Ausstrahlung, die ihn viel älter erscheinen ließ, als er war. Er hatte dunkle, halblange Haare, mit einer Spur von Grau an den Schläfen. Sie waren nach hinten gekämmt und enthüllten eine relativ hohe Stirn. Er hatte ein hageres Adlergesicht mit langem Kinn, spitzer Nase und vollen Lippen, die überhaupt nicht in dieses Gesicht passten. Seine großen Augen leuchteten in einem intensiven Grün und sahen mich ruhig, aber unglaublich ausdrucksvoll an. Er trug einen schwarzen Mantel, aus dem nur die Hände hervorschauten. Seine Finger waren lang und fein, und an einem davon trug er einen goldenen Ring, der einen Widderkopf darstellte und sehr antik wirkte.
    Wir verharrten eine Weile und sahen uns schweigend an, länger, als es zwischen zwei Unbekannten sozial akzeptabel gewesen wäre, aber es gelang mir einfach nicht, den Blick abzuwenden. Er studierte mich mit ruhiger Aufmerksamkeit und durchbohrte mich geradezu mit dem Blick aus seinen grünen Augen. Und doch war ich seltsamerweise kein bisschen nervös.
    Am Ende war er es, der zuerst sprach.
    »Willkommen.«
    Ich spürte instinktiv, dass dies ein Moment von grundlegender Bedeutung war, und wählte meine Worte mit aller Sorgfalt, zu der ich in der Lage war. »Man hat mich hierhergebracht, um dich zu treffen, nicht wahr?«
    Der Mann nickte: Es war eine langsame Geste, ohne Eile.
    »Warum?« Ich hatte gar nicht vorgehabt, eine so direkte Frage zu stellen, aber sie war mir einfach herausgerutscht.
    Um seinen Mund spielte der Anflug eines Lächelns. »Weil ich den Wunsch verspürte, deine Bekanntschaft zu machen, und weil ich Grund zu der Annahme habe, dass es auch dir nicht missfallen wird, die meine zu machen.«
    »Warum?«, wiederholte ich, wieder ohne es zu wollen, und kam mir diesmal wie eine Idiotin vor. Der Mann sprach auf eine sonderbar ausgefeilte Weise, wie eine Figur aus einem Historienfilm.
    »Ich kann mir vorstellen, dass du, im Licht der Umstände, in denen du dich befindest, viele Fragen hast.«
    Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug. »Ja.«
    »Und ich vermute, ich kann dir eine Hilfe sein.«
    »Du weißt …« Mir versagte die Stimme; mein Mund war plötzlich wie ausgetrocknet. »Du weißt, was mit mir los ist?«
    Er nickte wieder.
    »Sag es mir!« Ich konnte meine Stimme nicht mehr im Zaum halten. »Gib mir eine Erklärung, ich bitte dich! Ich will wissen, was mit mir geschieht, warum mein Leben ein so absurdes Chaos geworden ist und ich … nicht die geringste Ahnung habe, was vor sich geht!«
    Er öffnete die Hände, die Handflächen zu mir gewandt, in einer sonderbaren Geste, die wohl beruhigend gemeint war, aber vor allem bizarr und archaisch wirkte, genau wie sein ganzes Aussehen und seine Art zu sprechen.
    »Beruhige dich, es gibt keinen Grund zur Empörung. Es wird dir nichts Schlimmes

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