Die zwei Monde: Roman (German Edition)
waren schon über eine halbe Stunde unterwegs. Auch wenn ich umgekehrt wäre, wäre ich mit einer absurden Verspätung zu Hause angekommen. Dann konnte ich genauso gut einfach weitergehen.
Inzwischen hatte sich meine Führerin in ein Labyrinth aus winzigen Gässchen mit sehr hohen Gebäuden gewagt, das plötzlich in einen offenen Platz auslief, der mit Blumenbeeten bepflanzt war. Links von mir sah ich über den Dächern die Turmspitzen des Doms, die gar nicht weit entfernt schienen: Wir befanden uns also tatsächlich im Zentrum und standen direkt vor einer Kirche, die zwar eher schlicht wirkte, deren Eingangspforte aber von zwei riesigen Engelsstatuen bewacht wurde. Auf ihren steinernen Gesichtern lag ein seltsamer Ausdruck, eine Art Lächeln, und es schien mir, dass einer von beiden mich ganz persönlich anschaute. Es war ein sehr ironischer Blick.
Nur zu , sagten diese Augen, lass mal sehen, bis wohin sich die kleine Veronica traut.
Das Mädchen mit den Blumen im Haar überquerte den Platz und machte vor dem Tor eines anderen Gebäudes links neben der Kirche halt. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich merkte, dass es sich um eine zweite Kirche handelte, die weiß gestrichen und noch schlichter war als die andere, und deren Fassade im rechten Winkel zu jener stand: Zwischen den beiden Gebäuden gab es gerade genug Platz für eine sehr enge Gasse. Wenn man sie so ansah, weiß und kahl, die Fenster alle in einer Reihe, schien es sich eher um die Wand eines Privathauses zu handeln als um die einer Kirche.
Das Mädchen sah mich an, die Augen groß und weit, um dann einen Blick auf die Tür neben sich zu werfen. Sie holte tief Atem und trat ein.
Das Innere der Kirche war klein, still und nackt wie das Äußere und machte keine große Lust, sich hier länger aufzuhalten. Es war keine Menschenseele zu sehen. Ich wollte gerade wieder gehen, als ich rechts neben dem Eingang eine andere Tür entdeckte: Sie stand offen, war schmal und entließ einen Geruch nach Feuchtigkeit und Kälte. Ich trat über die Schwelle und fand mich in einem sehr engen Durchgang wieder; an den Wänden hingen Holztafeln mit Votivbildern, die von Metallgittern geschützt waren, wohl damit niemand versuchte, sie mitzunehmen. Ich ging dichter heran und betrachtete sie von Nahem: Sie schienen sehr alt zu sein. Es roch hier noch mehr nach Feuchtigkeit und Schimmel.
Am Ende des Korridors befand sich eine weitere Tür, auch sie stand offen. In dem Moment, als ich sie sah, überfiel mich die Angst.
Ich ging trotzdem weiter, schneller jetzt. Jede Sekunde des Zögerns wäre der erste Schritt auf dem Weg in die Flucht gewesen. Und tatsächlich sprengte das Schauspiel, das mich hinter dieser Tür erwartete, jede Vorstellungskraft.
Es handelte sich um eine Kapelle mit sehr hoher Decke, die in ein düsteres Halbdunkel getaucht war; das einzige Licht drang durch ein paar Milchglasfenster herein, die in massive Rahmen aus gehauenem Stein gefasst waren. Einige wenige Holzbänke standen vor dem Altar, auf dem eine Frauenfigur thronte, bei der es sich ebenso gut um die Jungfrau Maria hätte handeln können wie um irgendeine andere Heilige. Sie war klein, in Kleider aus echtem Stoff gehüllt und entschieden hässlich.
All diese Dinge nahm ich jedoch kaum wahr, denn meine Aufmerksamkeit wurde vollkommen von den Wänden in Anspruch genommen: Mauern, Tragbalken, Altar und sogar die Ränder des Deckengewölbes waren über und über mit Knochen bedeckt . In erster Linie mit Schädeln. Dutzende, Hunderte davon türmten und reihten sich übereinander, einige davon sogar so angeordnet, dass sie Muster bildeten: Auf einer Seite befand sich ein Kreuz, das fast bis zur Decke reichte und übermannsgroß war, auf der anderen ein Symbol, das ich nicht enträtseln konnte. Metallgitter wie jene, die die Votivbilder im Gang schützten, hielten die Schädel gegen die Wand gepresst, aber es gab auch welche, die frei angebracht worden waren, entweder direkt am Putz befestigt oder am schwarzen Marmor der Scheinsäulen, die an den Mauern entlangliefen.
Mit offenem Mund drehte ich mich um meine eigene Achse, so entgeistert, dass ich nicht mal Angst hatte. Ich stand in einem vollständig mit Knochen ausgekleidetem Raum, mitten im Herzen Mailands.
An der wenig erleuchteten Wand gegenüber dem Altar befand sich eine Tür aus sehr dunklem Holz, von der ich annahm, dass sie nach draußen führen musste. Überall um die Tür herum waren weitere Knochen zu sehen – Rippen, Schienbeine,
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