Die zwei Monde: Roman (German Edition)
Zeit, aber vor allem war sie selbst es, die sich verändert hatte. Sie hatte sehr, sehr lange Zeit mit dem Prinzen und seinen Leuten gelebt: Sie hatte ihre Speisen gekostet, ihre Gesellschaft genossen, in ihren Häusern gewohnt. Die menschliche Natur war einfach nicht mehr die ihre: Sie war eine von ihnen geworden und würde es doch gleichzeitig nie ganz sein. Sie schlief weder, noch wachte sie, und ihr Traum war doch ewig geworden. Ein Traum, aus dem es kein Erwachen gibt.«
Es folgte ein langes Schweigen. Die Luft im Salon schien kälter geworden.
»Sie erzählen mir Märchen, Conte.«
»Märchen sagen oft die Wahrheit, auf ihre Art.« Er hob mit Sorgfalt seine Tasse und trank einen Schluck. »Und von vielen Wahrheiten bevorzugt man zu denken, dass es nur Märchen sind.« Er zeigte auf meinen Tee und sagte mit einem seiner Geisterlächeln. »Warte nicht, bis er kalt wird.«
In automatischem Gehorsam beugte ich mich hinunter, um den Duft des Tees einzuatmen und spürte dabei meinen leeren Magen. Klar, die Mittagszeit war ja auch schon vorbei! …
Ich schob, jeden Gedanken an meine Mutter und daran, was mir beim Heimkommen blühen würde, gewaltsam beiseite und nahm stattdessen einen Schluck Tee. Er war stark, aber sehr süß.
Der Conte fuhr fort, mich zu beobachten. Ich hatte sein Spiel bis hierher mitgespielt: Was konnte ich nun anderes tun, als einfach weiterzumachen?
»Dann wären also die schwarzen Männer, die ich in jener Nacht getroffen habe, die Diener dieses Prinzen?«
»Das ist eine Möglichkeit, sie zu betrachten.«
»Märchenwesen.«
»Wesen, von denen auch die Märchen erzählen. Und die Mythen und die Sagen und viele Bücher im Lauf der Geschichte. Sie leben seit jeher mit den Menschen zusammen.«
Es war nicht das erste Mal, dass ich diesen Satz hörte. »Ja, aber was sind sie?«
»Bewohner eines anderen Blickwinkels unserer Welt. Nachbarn unserer Wirklichkeit. In fernen Zeiten war unsere Beziehung zu ihnen … enger. Aus diesem Grund tragen wir sie noch in der Erinnerung, mit unterschiedlichen Namen und Erklärungen, je nach der Kultur, in der man lebt. Man spricht von ihnen als Geist, Monster oder Dämon, aber auch als ›Genius loci‹, Geist des Ortes. Und manchmal auch, warum nicht, von Feen.«
»Und sie leben unter der Erde? Also wirklich unter dieser Stadt?«
»Einige von ihnen. Sie haben andere Bedürfnisse als wir und andere Abneigungen. Jene, denen du begegnet bist, verabscheuen das Licht, ebenso wie freie Plätze und Menschenmengen.«
»Aber warum sehen die Leute sie nicht?«
Diesmal lächelte der Conte wirklich. »Weil die Leute nicht aufpassen.«
Neuerliches Schweigen.
Ja, auch das stimmte mit dem ganzen Rest überein. Absurd, aber es passte tatsächlich.
»Warum hat Regina mich gesucht?«
»Um dich zu mir zu bringen, natürlich. Ich habe sie geschickt.«
Ich spürte einen Anflug von Wut. »Man hätte sie fangen können! Wenn ich sie in jener Nacht nicht rechtzeitig gesehen hätte, wenn ich ihr nicht hinterhergerannt wäre, was hätten ihr diese Kreaturen dann angetan? Was wäre ihr …«
»Ich war mir des Risikos bewusst«, unterbrach mich der Conte mit ruhiger Stimme. »Überdies hatte sie schon viele Male versucht, deine Aufmerksamkeit bei Tage zu erregen – wenn die Unterirdischen sich nicht oder nur in seltenen Ausnahmen zeigen.«
Ich schwieg. Das stimmte allerdings.
Und doch …
»Aber warum hat sie mich nicht gerufen, hat mir keine Erklärung gegeben …«
»Sie kann dir nichts erklären. Sie besitzt das Wort der Menschen nicht mehr.«
Ich zwinkerte ungläubig. »Sie ist stumm?«
»Sie hat auf das Wort verzichtet.«
»Sie wollen damit sagen, dass sie aus eigener Entscheidung nicht spricht?«
»Sie spricht nicht, weil sie zu viel zu sagen hätte.«
Ich presste mir verzweifelt die Hände an die Schläfen. »Das gibt für mich keinen Sinn.«
»Indem sie das Leben der Unterirdischen akzeptiert hat, hat sie der Natur der Menschenwesen abgeschworen. Und das Wort gehört nun mal dem Menschen. Regina hat die Natur der Vegetation in sich aufgenommen: Sie hat akzeptiert, die Wurzeln in die Erde zu stecken, um Nahrung aus den Energien zu ziehen, die in der Dunkelheit verborgen sind, und sie hat sich darauf eingelassen, den linearen Ablauf der Zeit, des Alterns und Sterbens nicht mehr zu kennen, sondern nur noch den zyklischen Verlauf der Jahreszeiten. Sie hat die Seele einer Blume angenommen. Aber sie war jung damals: Man tut vieles, wenn man jung ist, aus
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