Die zweite Frau des Arztes (Contoli-Heinzgen-Krimi)
Luft. Ein Schweigen des Wartens.
Er würde nicht beginnen, ärgerte sich aber, dass er die Zeit so nutzlos verstreichen lassen musste, zumal er Ende der Woche zum Professor gehen und für die nächsten Tage sein Gutachten avisieren wollte. Auch die Kenntnis, dass er für dieses Gutachten eigentlich nicht mehr Informationen über seine Patientin brauchte, beruhigte ihn nicht. Er spürte deutlich, er würde wissen wollen, er musste wissen, für sich ganz persönlich, was Eva noch an die Oberfläche ließ. Er war völlig in seinen strittigen Gedanken versunken, als sie plötzlich sagte.
„ Sind Sie bereit?“
Überrascht hob er den Kopf.
„Wenn Sie es sind?“
„ Wo war ich stehen geblieben.“
„ Sie sind kopflos aus dem Haus gerannt.“
Eva nickte wie eine alte Frau, die ihr Kopfzittern nicht kontrollieren konnte. „Unterbrechen Sie mich nicht, lassen Sie mich einfach reden.“
Ich war kopflos aus dem Haus gerannt, richtig. Hier, genau an diesem Punkt des Abends, bin ich wieder hinter der Mauer. Da bekomme ich etwas nicht zusammen. Es hat keinen Sinn, sich weiter dahinter aufzuhalten. Ich komme wieder hervor.
Wie ich an dem besagten Abend nach Hause gekommen bin, weiß ich ebenfalls nicht genau. Irgendwann habe ich die Wohnungstür aufgeschlossen und mich aufs Bett geworfen. Meine Empfindungen stachen wie Pfeile. Ich wusste, ich hatte etwas übersehen, etwas war mir entglitten. Diffuse Bilder und Gedanken umgaben mich und ließen mich in einen ruhelosen Schlaf fallen. Wie ich mich jetzt erinnere, hatte ich damals zum ersten Mal diesen Traum vom Schatten, den ich Ihnen schon erzählt habe. Heute frage ich mich, war es Traum oder Wirklichkeit? War der Traum womöglich Wirklichkeit, die ich aus Angst vor mir selbst oder davor, was mich treffen könnte, hinter der Mauer verborgen habe? Vielleicht finden wir es heraus.
Am nächsten Tag ging ich ganz normal arbeiten und rief zwischendurch bei meiner Mutter an, doch sie nahm nicht ab. Ich versuchte es auch am folgenden Tag vergeblich. Am dritten Tag wurde ich unruhig und fuhr am Abend direkt nach der Arbeit zu ihr. Ich habe die Haustür aufgeschlossen und merkwürdigerweise bin ich sofort zur offen stehenden Kellertür gegangen. Zu meiner Verwunderung brannte das Licht. Ich sah sie tot unten an der Kellertreppe liegen. Ich habe nicht mal aufgeschrien. Mir war fast, als hätte mein Unbewusstes gar nichts anderes erwartet. Es war grotesk. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, regelrecht absurd. Aber das Waru m verbirgt sich wieder hinter der Mauer.
„ Mutter?“, rief ich leise, obwohl ich genau wusste, dass sie nicht mehr lebte. Vorsichtig, als trete ich auf rohe Eier, stieg ich Schritt für Schritt die Stufen zu ihr hinab, während ich mir einbildete, dämonische Schatten von den Wänden auf mich herabspringen zu sehen. Ich schaffte es nicht bis zu ihr, hetzte wieder hoch bis zur Treppenmitte und sackte auf eine der Stufen. Ich bekam nichts zusammen. Nahm das bizarre Bild ihres verkrümmt liegenden Körpers auf und wunderte mich, dass ich nicht in Tränen ausbrach. Einige Minuten verharrte ich wie in Trance auf der Treppe, bis ich mich aufraffte und mich weiter die letzten Stufen bis oben hoch quälte. So konnte ich sie da nicht liegen lassen, ich musste also etwas tun. Benommen lief ich im Zimmer auf und ab, bis ihr Tod endlich in mein Bewusstsein eingedrungen war. Danach rief ich die Polizei. Ich hatte natürlich Angst, sie würden mich verdächtigen, mir irgendwelche verzwickten Fragen stellen, auf die ich keine Antwort wusste. Aber sie waren sehr mitfühlend. Glaubten mir meine Aussage. Ich sagte ihnen natürlich nichts von meinem seltsamen Gefühl. Sagte ihnen nicht, dass ich irgendwann kopflos aus diesem Haus gerannt war. Das war mir nicht direkt entfallen aber auch nicht klar gegenwärtig. Ich vermied es wohl rein intuitiv. Ich sagte ihnen auch nichts von der Panik in mir, die hoch kommt, sobald ich auch nur für Sekunden an ihren Tod denke. Sie kam in die Gerichtsmedizin und kurz danach wurde ihr Ableben als Unfall zu den Akten gelegt.
An Mutters Begräbnis konnte ich nicht teilnehmen. Seit ihrem Tod plagten mich schwere Albträume, die mich Nacht für Nacht fast an den Rand des Wahnsinns brachten. Diese Träume wirkten sich derart auf meinen Alltag aus, dass sich sein essentieller Inhalt verschob. Ich vernachlässigte Elke und Ronald. Die einfachsten Dinge des Lebens wie zum Beispiel einkaufen zu gehen, bereiteten mir Schwierigkeiten. Ich fing an,
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