Die zweite Haut
konnte.
Zwölf breite Stufen führten zu einem drei Meter hohen Eichenportal mit fast zwei Meter hohen Buntglasfenstern über jedem Flügel. Bis auf einige rubinrote und gelbe Scherben waren alle Scheiben aus den Fenstern herausgeschlagen worden, zurück blieben dunkle, klaffende Löcher zwischen den Bleifassungen. Das Portal war in einen sieben Meter hohen Fünfpaßbogen eingelassen, über dem sich ein gewaltiges und reich verziertes Rosettenfenster befand, in dem noch rund zwanzig Prozent des Glases enthalten waren – wahrscheinlich weil es ein schwereres Ziel für Steine bot.
Die vier geschnitzten Flügel des Eichenportals waren verwittert, zerkratzt, rissig und ebenfalls mit Obszönitäten besprüht, die im aschefarbenen Licht der frühzeitigen Dämmerung schwach leuchteten. Auf einem hatte ein Vandale unbeholfen den weißen Stundenglasumriß eines Frauenkörpers mit Brüsten und einem Schritt in Form des Buchstabens Y gemalt und daneben die Darstellung eines Phallus, so groß wie ein Mann. Abgekantete Buchstaben, von einem meisterlichen Steinmetz geschaffen, verkündeten in den Granitstürzen über jeder Tür dieselbe Botschaft mit anderen Worten: ER HEBET UNS IN DEN HIMMEL; aber über diese Worte hatten die Vandalen mit roter Farbe das Wort QUATSCH gekritzelt.
Die Sekte hatte etwas Unheimliches an sich gehabt, und ihr Gründer – Jonathan Caine – war ein Betrüger und Päderast gewesen, aber Mary machten die Vandalen mehr Angst als die irregeleiteten Menschen, die Caine gefolgt waren. Wenigstens hatten die getreuen Sektenangehörigen an etwas geglaubt, wie irregeleitet auch immer, hatten sich danach gesehnt, Gottes Gnade würdig zu sein, und hatten für ihren Glauben Opfer gebracht, auch wenn sich diese Opfer letztendlich als dumm herausgestellt hatten; sie hatten gewagt zu träumen, auch wenn ihre Träume in einer Tragödie geendet hatten. Der hirnlose Haß dagegen, der aus den Parolen der Vandalen sprach, war das Werk sinnentleerter Menschen, die an gar nichts glaubten, nicht träumen konnten und nur durch das Leid anderer aufblühten.
Eine der Türen stand fünfzehn Zentimeter offen. Marty packte ihre Kante und zog. Die Scharniere waren eingerostet, das Eichenholz verzogen, aber die Tür öffnete sich knirschend weitere dreißig Zentimeter.
Paige ging als erste hinein. Charlotte und Emily folgten dicht hinter ihr.
Marty hörte den Schuß nicht, der ihn traf.
Als er den Mädchen folgen wollte, wurde er von einer Lanze aus Eis durchbohrt, die in den linken oberen Quadranten seines Rückens eindrang und auf derselben Seite durch die Muskeln und Knorpel unter dem Schlüsselbein wieder austrat. Die Kälte, die ihn durchbohrte, war so eisig, daß der Blizzard, der durch die Kirche wehte, im Vergleich dazu wie ein tropisches Unwetter wirkte, und er zitterte wie wild am ganzen Körper.
Als nächstes wußte er, daß er auf der schneebedeckten Stufe vor der Tür lag und sich fragte, wie er hierhergekommen war. Er war halb überzeugt, daß er sich gerade zu einem Nickerchen hingelegt hatte, aber die Schmerzen in seinen Knochen sprachen dafür, daß er hart auf dieses ungewöhnliche Bett gefallen war.
Er sah durch den fallenden Schnee und das Winterlicht Buchstaben in Granit, Buchstaben auf Granit.
ER HEBET UNS IN DEN HIMMEL.
QUATSCH.
Ihm wurde erst bewußt, daß er angeschossen worden war, als Paige aus der Kirche rannte, neben ihm niederkniete und rief: »Marty, mein Gott, mein Gott, du bist getroffen, der Dreckskerl hat auf dich geschossen«, und er dachte: O ja, natürlich, das ist es, ich bin angeschossen und nicht von einer Lanze aus Eis durchbohrt worden.
Paige stand neben ihm auf und hob die Mossberg. Er hörte zwei Schüsse. Sie waren unvorstellbar laut, anders als die lautlose Kugel, die ihn zu Boden geworfen hatte.
Er drehte neugierig den Kopf, um zu sehen, wie nahe ihr unbesiegbarer Feind ihnen gekommen war. Er rechnete damit, den Doppelgänger zu sehen, der nur wenige Meter entfernt und von den Schrotkügelchen unbehelligt auf sie zustürmte.
Statt dessen war der Andere stehengeblieben, außerhalb der Reichweite der beiden Schüsse, die Paige abgefeuert hatte. Er war eine schwarze Gestalt auf dem weißen Feld, doch das schwindende graue Licht offenbarte keine Einzelheiten seines allzu vertrauten Gesichts. Er lief durch den Schnee hin und her, hin und her, geschmeidig und schnell, wie ein Wolf, der eine Schafherde belauert, wachsam und geduldig, und er wartete ab, bis der Augenblick kam,
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