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Die zweite Haut

Die zweite Haut

Titel: Die zweite Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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an dem sie ihm endgültig zum Opfer fallen würden.
    Der Dolch aus Eis, der Marty durchbohrt hatte, wurde von einem Augenblick zum nächsten ein Stilett aus Feuer. Mit der Hitze kamen unerträgliche Schmerzen; er stöhnte. Nun endlich wurde die abstrakte Vorstellung von einer Schußwunde in die Sprache der Wirklichkeit übersetzt.
    Paige hob wieder die Mossberg.
    Marty, der mit den Schmerzen sein klares Denkvermögen zurückbekam, sagte: »Keine Munition vergeuden. Laß ihn vorerst in Ruhe. Hilf mir hoch.«
    Mit ihrer Hilfe gelang es ihm aufzustehen.
    »Schlimm?« fragte sie besorgt.
    »Ich werd’ schon nicht sterben. Gehen wir rein, bevor er noch einmal auf uns schießt.«
    Er folgte ihr durch die Tür in die Vorhalle, wo die Dunkelheit lediglich von schwachen Lichtstrahlen erhellt wurde, die durch die angelehnte Tür und einige Oberlichter ohne Scheiben hereinfielen.
    Die Mädchen weinten, Charlotte lauter als Emily, und Marty versuchte sie zu beruhigen. »Schon gut, mir geht es prima, nur ein kleiner Kratzer. Ich brauche nur ein Pflaster, eines mit einem Bild von Snoopy darauf, dann geht es mir gleich besser.«
    In Wahrheit war sein linker Arm halb taub. Er konnte ihn nur teilweise gebrauchen. Wenn er die Muskeln der Hand anspannte, konnte er sie nicht zur Faust ballen.
    Paige schlich zum vierzig Zentimeter breiten Spalt zwischen der großen Tür und dem Rahmen, wo der Wind pfiff und heulte. Sie sah hinaus nach dem Anderen.
    Marty wollte sich ein besseres Bild machen, welchen Schaden die Kugel angerichtet hatte, daher schob er die Hand in die Skijacke und tastete behutsam die linke Schulter ab. Schon die geringste Berührung löste Schmerzen aus, bei denen er mit den Zähnen knirschte. Sein Wollpullover war mit Blut getränkt.
    »Geh mit den Mädchen weiter in die Kirche hinein«, flüsterte Paige beschwörend, obwohl ihr Gegner sie draußen im Sturm unmöglich hören konnte. »Bis zum anderen Ende.«
    »Wovon redest du?«
    »Ich warte hier auf ihn.«
    Die Mädchen erhoben Einwände. »Mommy, nicht.«
    »Mom, komm mit uns, du mußt.«
    »Mommy, bitte.«
    »Ich komme zurecht«, sagte Paige, »mir wird nichts passieren. Alles wird gut. Verstehst du denn nicht? Marty, wenn der Kerl spürt, daß du dich entfernst, wird er in die Kirche kommen. Er wird erwarten, daß wir zusammen sind.« Während sie sprach, lud sie zwei neue Patronen ins Magazin der Mossberg, um die beiden zu ersetzen, die sie gerade verschossen hatte. »Er wird nicht damit rechnen, daß ich hier auf ihn warte.«
    Marty erinnerte sich, daß sie dieselbe Unterhaltung schon einmal geführt hatten, als sie nach draußen gehen und sich hinter den Felsen verstecken wollte. Da hatte ihr Plan nicht funktioniert, aber nicht, weil er nicht gut gewesen wäre. Der Andere war mit dem Jeep an ihr vorbeigefahren und hatte offenbar gar nicht gemerkt, daß sie in ihrem Versteck lag. Hätte er nicht diese unvorhersehbare Wahnsinnstat vollbracht, mit dem Jeep direkt ins Haus zu rasen, hätte sie sich möglicherweise von hinten an ihn anschleichen und ihn über den Haufen schießen können.
    Trotzdem wollte Marty sie nicht allein bei der Tür zurücklassen. Aber sie hatten keine Zeit für Diskussionen, da er vermutete, seine Verletzung würde ihm bald das letzte bißchen Kraft rauben, das er noch hatte. Und darüber hinaus hatte er auch keinen besseren Plan.
    Im Halbdunkel konnte er Paiges Gesicht kaum erkennen.
    Er hoffte, daß er sie nicht zum letzten Mal sah.
    Er führte Charlotte und Emily aus der Vorhalle ins Kirchenschiff. Dort roch es nach Staub und Feuchtigkeit und den wilden Tieren, die sich in den Jahren, seit die Sektenmitglieder weggegangen waren, um die Trümmer ihrer Lebensläufe aufzusammeln, statt emporzuschweben und zur Rechten Gottes zu sitzen, hier eingenistet hatten.
    Auf der Nordseite wehte der unablässige Wind Schnee zu den zerschmetterten Fenstern herein. Hätte der Winter ein Herz besessen, reglos und aus Eis geschnitzt, es hätte nicht kälter sein können als dieser Ort, nicht einmal der Tod hätte eisiger sein können.
    »Ich hab’ kalte Füße«, sagte Emily.
    Er sagte: »Psssst. Ich weiß.«
    »Ich auch«, sagte Charlotte flüsternd.
    Daß sie sich über etwas so Gewöhnliches beschweren konnten, machte ihre Situation weniger bizarr, weniger furchteinflößend.
    »Echt kalt«, bekräftigte Charlotte.
    »Geht weiter. Bis ganz nach vorne.«
    Keiner von ihnen hatte Stiefel an, nur Sportschuhe. Schnee hatte den Stoff durchweicht, klebte in

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