Die zweite Haut
jeder Ritze und gefror zu Eis. Marty dachte sich, daß sie sich im Augenblick noch keine Sorgen um Frostbeulen machen müßten. Die brauchten eine Weile, um sich zu entwickeln. Möglicherweise lebten sie gar nicht mehr lange genug, um darunter zu leiden.
Schatten hingen wie Flaggen im ganzen Kirchenschiff, aber in dem großen Raum war es heller als in der Vorhalle. Fenster mit Doppelbögen, die schon lange von der Last der Scheiben befreit worden waren, verliefen an beiden Seitenwänden und reichten zwei Drittel der Entfernung bis zur Gewölbedecke hinauf. Ausreichend Licht drang herein, daß man die Reihen der Bänke, den langen Mittelgang, der zum Altarraum führte, das gewaltige Chorgestühl und sogar einen Teil des Altars ganz vorne erkennen konnte.
Das Hellste in der ganzen Kirche waren die Verunstaltungen durch die Vandalen, die ihre Obszönitäten noch verschwenderischer auf die inneren Wände gesprüht hatten als auf die äußeren. Er hatte vermutet, daß es sich um Leuchtfarbe handelte, und tatsächlich leuchteten die serpentinenartigen Schnörkel in den dunkleren Ecken orange und blau und grün und gelb, überlappten einander, waren ineinander verschlungen und verschmolzen miteinander, bis man fast den Eindruck hatte, als wären sie echte Schlangen, die an den Wänden zuckten.
Marty wartete gespannt auf Schüsse.
Am Altarraum fehlte die Tür.
»Geht weiter«, drängte er die Mädchen.
Alle drei betraten die Altarplattform, von der sämtliche zeremoniellen Gegenstände entfernt worden waren. An der Wand dahinter hing ein zehn Meter hohes Holzkreuz voller Spinnweben.
Sein linker Arm war abgestorben, fühlte sich aber geschwollen an. Die Schmerzen waren wie die eines vereiterten Zahns, nur in der Schulter. Ihm war übel – aber er wußte nicht, ob wegen des Blutverlustes oder aus Angst um Paige oder wegen des unheimlichen, desorientierenden Inneren der Kirche.
Paige wich vom Eingang in einen Teil der Vorhalle zurück, der dunkel bleiben würde, auch wenn die Tür weiter geöffnet wurde.
Sie starrte auf die Lücke zwischen Tür und Rahmen und sah geisterhafte Bewegungen im trüben grauen Licht und dem tanzenden Schnee. Sie hob das Gewehr mehrmals und ließ es wieder sinken. Jedesmal, wenn die Konfrontation bevorzustehen schien, stockte ihr der Atem im Hals.
Sie mußte nicht lange warten. Er kam nach drei oder vier Minuten und war längst nicht so vorsichtig, wie sie erwartet hatte. Offenbar spürte der Andere, daß sich Marty in den hinteren Teil der Kirche zurückgezogen hatte, und trat zuversichtlich und kühn ein.
Als er über die Schwelle trat und seine Silhouette sich deutlich im schwindenden Tageslicht abzeichnete, zielte sie genau auf seine Brust. Das Gewehr zitterte, noch bevor sie abdrückte, in ihrer Hand, und es wurde vom Rückstoß hochgerissen. Sie lud sofort die zweite Patrone in die Kammer und feuerte noch einmal.
Der erste Schuß traf ihn genau, aber der zweite richtete wahrscheinlich mehr Schaden am Türrahmen an als an ihm, denn er schnellte zurück, zur Tür hinaus, fort.
Sie wußte, sie mußte ihn schwer verletzt haben, aber er gab keine Schreie, keine Schmerzenslaute von sich, daher ging sie ebenso vorsichtig wie hoffnungsvoll zur Tür hinaus und rechnete damit, eine Leiche auf den Stufen liegen zu sehen. Er war fort, was irgendwie auch nicht überraschend war, und sein schnelles Verschwinden war so verwirrend, daß sie sich tatsächlich umdrehte und an der Kirchenmauer hinaufsah, als könnte er behende wie eine Spinne daran emporklettern.
Sie konnte nach Spuren im Schnee Ausschau halten und versuchen, ihn aufzuspüren. Sie vermutete, daß er genau das wollte.
Nervös eilte sie im Laufschritt in die Kirche zurück.
Töte sie, töte sie alle, töte sie jetzt.
Postenschrot. Im Hals, wo sich die Kugeln schmerzhaft tief ins Fleisch bohren. An einer Seite des Nackens. Harte Klumpen in der linken Schläfe. Das linke Ohr ist zerfetzt und blutet. Aknepickel aus Blei auf der linken Wange, auf dem Kinn. Unterlippe zerrissen. Zähne zertrümmert und rissig. Er spuckt Schrotkörner. Stechende Schmerzen, aber keine Augenverletzungen, Sehkraft nicht beeinträchtigt.
Er hastet geduckt an der Südseite der Kirche entlang durch eine so graue und fahle Dämmerung, so sehr in Schneetreiben gehüllt, daß er keinen Schatten wirft. Kein Schatten. Keine Frau, keine Kinder, keine Mutter, keinen Vater, fort, kein Leben, gestohlen, verbraucht und weggeworfen, kein Spiegel, in den er schauen kann,
Weitere Kostenlose Bücher