Die zweite Haut
daß ein Alarm ertönt, aber keine Sirene ist zu hören. Ein rascher Blick auf Tür und Rahmen zeigt ihm, daß auch keine magnetischen Schalter oder dergleichen vorhanden sind, demnach kann es auch keinen lautlosen Alarm geben.
Nachdem er die Werkzeuge weggepackt und den Lederkoffer geschlossen hat, tritt er über die Schwelle und macht leise die Tür hinter sich zu.
Er steht eine Zeitlang in der kalten, schattigen Küche und absorbiert die Schwingungen, die positiv sind. Dieses Haus heißt ihn willkommen. Hier beginnt seine Zukunft, und die wird unendlich strahlender sein als seine verwirrte, von Amnesie überschattete Vergangenheit.
Als er die Küche verläßt, um das Haus zu erforschen, zieht er die P7 nicht aus dem Schulterhalfter. Er ist sicher, daß niemand zu Hause ist. Er spürt keine Gefahr, hat ein gutes Gefühl.
»Ich muß jemand werden«, sagt er zu dem Haus, als wäre es ein lebendes Wesen mit der Macht, seinen Wunsch zu erfüllen.
Im Erdgeschoß findet sich nichts Interessantes. Die üblichen Zimmer sind mit behaglichen, aber unspektakulären Möbel stücken versehen.
Oben bleibt er nur kurz in jedem Zimmer und verschafft sich einen allgemeinen Überblick über den ersten Stock, bevor er sich Zeit für eine gründlichere Untersuchung nimmt. Ein Elternschlafzimmer mit angrenzendem Bad und begehbarem Kleiderschrank … ein Gästezimmer … Kinderzimmer … noch ein Bad …
Das letzte Zimmer am Ende des Flurs – im vorderen Teil des Hauses gelegen – wird als Arbeitszimmer genutzt. Es enthält einen großen Schreibtisch und ein Computersystem, wirkt aber eher gemütlich als geschäftsmäßig. Ein klobiges Sofa steht unter dem geschlossenen Fenster, eine Tiffanylampe auf dem Schreibtisch.
Eine der beiden längeren Wände ist mit einer Doppelreihe von Bildern geschmückt, deren Rahmen einander fast berühren. Die Stücke der Sammlung stammen offensichtlich von mehr als einem Künstler, die Themen jedoch sind ausnahmslos finster und brutal, aber mit unzweifelhaftem Talent dargestellt: verzerrte Schatten, körperlose, vor Entsetzen aufgerissene Augen, ein Ouija-Brett, auf dem ein blutbefleckter Kelch steht, pechschwarze Umrisse von Palmen vor einem geheimnisvollen Sonnenuntergang, ein von einem Zerrspiegel verunstaltetes Gesicht, die glänzenden Stahlklingen von scharfen Messern und Scheren, eine trostlose Straße, wo bedrohliche Schurken gerade außerhalb des trüben gelben Leuchtens von Straßenlaternen lauern, kahle Bäume mit kohlschwarzen Ästen, ein Rabe mit roten Augen, der auf einem Totenschädel sitzt, Pistolen, Revolver, Schrotflinten, ein Eispickel, ein Schlachterbeil, eine Axt, ein seltsam befleckter Hammer, der obszön auf einem Seidennegligé und Spitzenbettwäsche liegt …
Die Bilder gefallen ihm.
Sie sprechen ihn an.
Das ist das Leben, das er kennt.
Er wendet sich von der Bilderwand ab, schaltet die Schreibtischlampe ein und bewundert deren bunte, leuchtende Schönheit.
In der Glasplatte, die den Schreibtisch schützt, wirken die Spiegelbilder der Kreise und Ovale und Tränen immer noch hübsch, aber dunkler als bei direkter Betrachtung. Auf eine undefinierbare Weise haben sie auch den Charakter von Vorzeichen.
Als er sich nach vorne beugt, sieht er die beiden Ovale seiner Augen, die ihn aus dem polierten Glas anstarren. Eigene winzige Spiegelbilder des Mosaiks aus Lampenschein spiegeln sich darin, so daß sie nicht wie Augen aussehen, sondern wie die leuchtenden Sensoren einer Maschine – und wenn doch Augen, dann die fiebrigen Augen eines seelenlosen Wesens –, und er wendet rasch den Blick von ihnen ab, bevor zuviel Selbstanalyse ihn zu beängstigenden Gedanken und unerträglichen Schlußfolgerungen führt.
»Ich muß jemand werden«, sagt er nervös.
Sein Blick fällt auf eine Fotografie im silbernen Rahmen, die ebenfalls auf dem Schreibtisch steht. Eine Frau und zwei kleine Mädchen. Ein hübsches Trio. Lächelnd.
Er hebt das Foto auf, damit er es eingehender studieren kann. Er drückt eine Fingerspitze auf das Gesicht der Frau und wünscht sich, er könnte sie wirklich berühren, die warme und sanfte Haut spüren. Er streicht mit dem Finger über das Glas und berührt zuerst das blonde Kind und dann den dunkelhaarigen Kobold.
Als er nach ein oder zwei Minuten vom Schreibtisch weg geht, nimmt er das Foto mit. Die drei Gesichter auf dem Porträt sind so wunderschön anzuschauen, daß er sie jedesmal ansehen will, wenn er den Drang dazu verspürt.
Als er die Titel der
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