Die zweite Invasion - Legenden der Zukunft (German Edition)
so zögerte er den Moment des endgültigen Erwachens noch ein wenig hinaus. Es war angenehm, sich mit geschlossenen Augen treiben zu lassen und dem Tschah-Womm der Wogen zu lauschen, die in der Ferne gegen das Riff anrollten.
Natürlich hatte Vincent längst begriffen, wo er sich befand. Er kannte diesen Ort besser als jeden and eren, auch wenn seine Erinnerungen aus einem früheren Leben stammten, das ihm zuletzt immer unwirklicher erschienen war. Dennoch war auch in den Jahren seines Pontifikats kaum ein Tag vergangen, an dem sich Vincent nicht hierher zurückgesehnt hatte – an diesen Ort und natürlich zu ihr: Rahina.
Das Sonnenlicht würde ihn blenden, wenn er jetzt die Augen öffnete, aber das war, wie Vincent plöt zlich klar wurde, nicht der eigentliche Grund für sein Zögern. Die Furcht, dass er sich getäuscht haben könnte, dass alles, was er hörte und empfand, vielleicht nur ein Traum war, eine Fata Morgana seiner Wünsche, schnürte ihm beinahe die Kehle zu. Was, wenn er erwachte, und sie war nicht hier?
Unsinn , schalt er sich, immerhin habe ich Sein Wort.
Sie wird da sein , flüsterte Vincent beschwörend und spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Blinzelnd öffnete er die Augen und lächelte, als er den makellos blauen Himmel über sich sah. Dann verlagerte er sein Gewicht, bis er Grund unter den Füßen spürte, und stand auf. Das Wasser war kaum schulterhoch, obwohl ihn die Strömung weit hinausgetrieben hatte. Er schaute zum Ufer und sah Rahina neben der Tür zur Lodge stehen. Sie trug ihr beigefarbenes Kleid, natürlich, und winkte ihm zu. Offenbar hatte sie ihn die ganze Zeit über beobachtet.
Eines Tages wirst du zurückkommen und für i mmer bleiben.
Vincent winkte zurück und spürte, wie ihm die Tr änen in die Augen schossen.
Dann begann er zu laufen.
Das Paradies des Jägers erwartete ihn und gleichze itig – aber diese Erkenntnis stand Vincent noch bevor – die schlimmste aller Heimsuchungen: die Hölle der erfüllten Wünsche ...
Gute Hoffnung
Das Schicksal der Erde war besiegelt. Die Singul arität raste mit der unerbittlichen Präzision eines Fallbeils der Sonne entgegen, und niemand konnte sie aufhalten. Sie würde sie genauso verschlingen, wie sie bereits Dutzende Sternsysteme unterwegs verschlungen hatte und ungezählte zuvor, deren Untergang niemand beobachtet hatte. Was blieb, waren eine Galgenfrist von wenigen Jahrzehnten und eine Reihe von Evakuierungsprojekten, die nicht einmal ein Zehntausendstel der Erdbevölkerung retten konnten. Das Bona-Spes-Projekt des Heiligen Stuhles war nur eines von vielen, aber auf ihm ruhten die Hoffnungen jener, die sich keinen Platz anderswo erkaufen konnten und auf die Gerechtigkeit der Mutter Kirche vertrauten. Sie glaubten und hofften, und dennoch mussten die meisten ungetröstet bleiben, denn auch die »Bona Spes« war Menschenwerk, und Wunder konnte nur Er allein tun ...
Die Stadt lag still unter der Last der Nachmittagssonne. Der Marktplatz war verwaist; die fliegenden Händler hatten ihre Stände schon vor Stunden abgebaut und waren in Richtung des Hafens weitergezogen. Die Hunde schliefen im Schatten, und selbst die aufdringlichen Blauelstern waren verstummt oder hatten sich in kühlere Gefilde empfohlen.
Die beiden dunkel gekleideten Frauen, die g esenkten Hauptes vor der Kapelle des heiligen Christophorus verharrten, erschienen in ihrer Reglosigkeit wie Skulpturen. Die Stille hüllte sie ein wie ein schützender Kokon. Niemand hatte es gewagt, sie anzusprechen, seitdem sie dort standen und beteten. Einzig Morietti, der Wirt des Straßencafés, fasste sich nach einiger Zeit ein Herz und brachte den beiden eine Karaffe Wasser, die er zusammen mit dem Tablett und Gläsern auf dem Mäuerchen abstellte, das den Kirchgarten säumte. Ein kaum merkliches Nicken war der einzige Dank, den er dafür empfing, aber das war ihm genug. Morietti war ein kluger Mann, der wusste, wann er zu schweigen hatte.
Die Nachricht von der bevorstehenden Rückkehr des jungen Sciutto hatte die Stadt durcheilt wie ein Lauffeuer, doch es war keine Freudenbotschaft g ewesen. Niemand zweifelte an ihrem Wahrheitsgehalt, obwohl die Information so vage und kryptisch war wie alles, das von draußen seinen Weg in die Stadt fand. Ihr Ursprung lag im Dunkel, auch wenn nicht wenige die Hafenmeisterei in Verdacht hatten, den Dreh- und Angelpunkt für jeglichen Handel und Wandel. Vielleicht hatten der Hafenmeister und seine Gehilfen
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