Die zweite Invasion - Legenden der Zukunft (German Edition)
ja tatsächlich etwas gesehen, waren sie doch die einzigen, die Zutritt zum alten Leuchtturm hatten, von dem aus man weit über den See blicken konnte. Ob allerdings so weit , war angesichts der Nebelbänke, hinter denen sich das verbotene Land verbarg, mehr als fraglich. Außerdem war der Turm schon seit einer Ewigkeit außer Betrieb und das Betreten des rostzerfressenen Kolosses lebensgefährlich.
Im Grunde war es müßig, darüber zu spekulieren, wer zuerst etwas erfahren und weitergesagt hatte, denn inzwischen hatte die Nachricht längst die Ru nde gemacht. Selbst der Wind schien eingeweiht, obwohl man schon sehr gut zuhören musste, um zu verstehen, was er den Blättern der großen Platane zuflüsterte, deren verstohlenes Rascheln sich mit dem Plätschern der Wasserstrahlen mischte, die sich aus steinernen Medusenmäulern in den Marktbrunnen ergossen: Er kehrt zurück – ohne Glück – ohne Glück ...
So hatte die Nachricht die Stadt und das Umland durcheilt bis hin zu den Hütten der Ziegenhirten, die oft tagelang allein mit ihren Herden unterwegs w aren und Wichtigeres zu tun hatten, als sich um die Eskapaden des jungen Sciutto und seiner Freunde zu kümmern. Vielleicht hatte der eine oder andere von dessen Verschwinden gehört, ohne dem Vorfall jedoch besondere Bedeutung zuzumessen.
Angesichts der bevorstehenden Rückkehr des Verschollenen hatte sich das jedoch geändert, denn i nzwischen zweifelte niemand mehr daran, dass der junge Mann sein Vorhaben wahrgemacht und sich so über eines der ältesten Gebote ihres Gemeinwesens hinweggesetzt hatte.
»Lasst euch doch nicht von den alten Schauerg eschichten ins Bockshorn jagen!«, hatte er am Abend vor seinem Verschwinden in Nicos Osteria ausgerufen, und wie stets war ihm der Beifall seiner Tischgenossen sicher gewesen. »Wenn es da draußen tatsächlich etwas gibt, dann sollten wir rausfahren und es uns ansehen – am besten gleich morgen früh. Also wer kommt mit?«
Ein paar Spaßvögel hatten sich auch gemeldet, aber die schliefen am nächsten Tag lieber ihren Rausch aus, als sich auf ein derart fragwürdiges U nternehmen einzulassen. Wer fuhr schon an einem Sonntagmorgen hinaus auf See? Mario Sciutto hatte es jedenfalls getan – offenbar noch vor Anbruch der Morgendämmerung, denn als die ersten Angler die Kaimauer besetzten, war Marios Boot bereits verschwunden gewesen ...
Angesichts der Umstände verboten sich Zweifel am Inhalt der Botschaft, offen blieb einzig die Frage nach dem Wann, die niemand laut zu stellen wagte, sei es aus Rücksicht der Familie gegenüber oder weil selbst die unbegründetste Hoffnung der Gewissheit vorzuziehen war. Dennoch schien die Spannung mit jedem ereignislos verstrichenen Tag zuzunehmen – eine Spannung, die wie ein Alpdruck auf der Stadt lastete und um die Mittagszeit ihren Höhepunkt erreichte, wenn die Hitze die Luft über Mauern und Straßen zum Flirren brachte.
Jeder Atemzug fiel schwer, und Morrietti, der Wirt, bereute seine Samaritertat schon auf dem Rückweg, als ihm der Schweiß aus den Poren schoss und als klebriges Rinnsal den Nacken hinunterrann. Immer wieder glitt sein Blick die Via Negra hinab in Richtung Hafen, aber dort deutete nichts auf Verä nderung hin. Die Fischerboote lagen mit gerefften Segeln vor Anker wie jeden Tag, und die Fähre hatte wohl mangels Kundschaft den Betrieb eingestellt. Der See war spiegelglatt und glitzerte wie flüssiges Silber. Es schien, als habe er sich ebenfalls zur Ruhe gelegt und harre wie die Stadt und ihre Bewohner auf eine belebende Brise, die vielleicht einen Wetterwechsel ankündigte. Doch der würde noch einige Zeit auf sich warten lassen. Dazu musste der Wirt nicht erst die Vorhersage studieren, die ohnehin keine Prognose war, sondern eine Festlegung . Andere hatten sie getroffen, lange vor seiner Zeit.
Bevor der Wirt ins Haus ging, warf er noch einen Blick hinüber zu den beiden Frauen, die weiter in der drückenden Sonnenglut beteten, obwohl die K apelle für jedermann offen stand. Morietti wusste nicht, weshalb sie sich das antaten. Niemand wusste es. Vielleicht wollten sie Buße tun für etwas, das sie getan oder unterlassen hatten, oder sie hofften auf ein Wunder ...
Der Wirt zuckte bedauernd mit den Schultern, b evor er in den kühlen Schatten der leeren Gaststube trat und sich aufseufzend auf dem zerschlissenen Ledersessel niederließ, der dem Hausherrn vorbehalten war. Normalerweise hielt er um diese Zeit ein mehr oder weniger ausgedehntes
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