Die zweite Invasion - Legenden der Zukunft (German Edition)
besonderen Phantasie, sich die HV-Werbespots mit entrückt lächelnden Teilne hmern realer oder fiktiver Probeaufenthalte im gelobten Land vorzustellen. Dubiose Jenseits-Vermittler und Sekten würden wie Unkraut aus dem Boden sprießen mit Angeboten, die von zertifizierten Vorbereitungskursen bis zum organisierten Gruppen-Selbstmord reichten. Laienprediger und Heilsverkünder aller Couleur würden insbesondere auf den Kolonialplaneten Anhänger um sich scharen, um sie in eine bessere Welt zu führen, und schon bald würde sich dort niemand mehr finden, der für den profanen Lebensunterhalt anstrengende oder gefährliche Tätigkeiten auf sich nahm. Dringend benötigte Lieferungen von Rohstoffen und Halbfabrikaten in die Kernwelten würden ausbleiben, ohne dass Föderationsrat oder Militär auch nur das Geringste dagegen unternehmen konnten. Chaos und Anarchie waren vorgezeichnet, wenn sich der Einzelne selbst drakonischen Strafen durch Selbsttötung entziehen konnte, da er ja das Paradies zu erwarten hatte ...
Selbst wenn sich jemand fand, der die ewige Ve rdammnis als Folge bewusst unmoralischen Handelns ins Spiel brachte, würde man ihn vermutlich auslachen. In einer sich als aufgeklärt gerierenden Gesellschaft, in der fast jede Verirrung nicht nur geduldet, sondern durch den individuellen Anspruch auf Selbstverwirklichung legitimiert wurde, war kein Platz für die Hölle. Das versprochenen Paradies würde man dagegen als eine im Grunde logische Weiterentwicklung bereits existierender VR-Erlebniswelten ansehen, die schon heute jedermann offen standen, der sich ein Kortikal-Interface und die entsprechenden Senseware-Module leisten konnte. Die immer mehr um sich greifende Flucht aus der Realität war ja eine der Hauptursachen für den gesellschaftlichen Niedergang insbesondere im Bereich der Kernwelten der Föderation.
Der freie Markt kannte weder Moral noch Selbstb eschränkung, und so würde das Jenseits- Projekt der KIs nicht nur das Gegenteil des Beabsichtigten bewirken, sondern eher früher als später in einem allgemeinen Blutbad enden. Das würde zwar zunächst keine unmittelbaren Auswirkungen auf Agion Oros und das dort gehütete kulturelle Erbe der Menschheit haben, gefährdete aber auf längere Sicht dennoch die Existenzgrundlage des Ordens.
Diese Gefahren waren natürlich auch den Intell igenzen der Exosphere bekannt. Wenn ihr ehrgeiziges Projekt Erfolg haben sollte, benötigten Sie den Orden als glaubwürdige religiöse Instanz und Vermittler. Ihr Angebot stellte also kein Entgegenkommen dar, sondern entsprang reinem Pragmatismus.
Den Oberen selbst blieb nur die Wahl zwischen Scylla und Charybdis. Lehnten Sie das Angebot ab, hatten sie sich aus religiöser Sicht nichts vorzuwe rfen, riskierten aber, dass die von Menschen bewohnten Welten im Chaos versanken. Nahmen sie es jedoch aus rein pragmatischen Gründen an, machten sie sich nicht nur der Blasphemie mitschuldig; sie verrieten alles, was ihnen heilig war, selbst wenn sie Ihm im Herzen treu blieben.
Den sorgenvollen Mienen der alten Männer war a nzusehen, wie schwer die Last war, die auf ihren Schultern ruhte. Sie hatten sich Bedenkzeit ausbedungen, um den Vorschlag zu prüfen, und natürlich hofften sie darauf, dass er – Pater Benedict – seinen Teil dazu beitrug. Seine Ausbildung, er hatte mit einem Stipendium des Ordens einen Masterabschluss in Informationstheorie erworben, und seine Erfahrungen in Diensten der Societas prädestinierten ihn aus Sicht der Oberen für diese Aufgabe. Deshalb deuteten sie sein Zögern zweifellos als Ausdruck einer zwar sympathischen, in Anbetracht der Dringlichkeit des Problems dennoch unangebrachten Zurückhaltung.
Es war Benedict unmöglich, ihnen die Gründe seiner fast panischen Furcht zu offenbaren, und so suchte er verzweifelt nach einer plausibel klinge nden Begründung für seine ablehnende Haltung.
»Euer Vertrauen ehrt mich«, antwortete er schließlich, den Blick fest auf die Tischplatte gehe ftet, »aber ich bin leider nicht überzeugt, dass ein derartiges Experiment tatsächlich die gewünschte Aufklärung liefern kann.«
»Aber das ist allenfalls eine Vermutung«, wandte Pater Federicus leicht ungeduldig ein.
»Keineswegs. Wie ihr wisst, habe ich im Auftrag der Societas einige VR-Produkte unterschiedlich seriöser Herkunft testen dürfen. Das Prinzip beruht, wie der Name schon sagt, auf dem Ersatz realer Wahrnehmungen durch virtuelle also vorgetäuschte, was im Regelfall durch Einspeisung
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