Die zweite Invasion - Legenden der Zukunft (German Edition)
lösen. Natürlich war die Instanz, die sie erschaffen hatten, nicht Gott, aber sie konnte durchaus über gewisse analytischen Fähigkeiten verfügen und imstande sein, auf menschliche Bewusstseinsinhalte zuzugreifen. Wie sonst konnte sie sich anmaßen, Urteile zu fällen und Entscheidungen für die »Ewigkeit« zu treffen, selbst wenn es sich nur um eine Maschinen-Ewigkeit handelte?
Pater Benedict musste gewappnet sein, wenn er dorthin ging, sich seine Stärken und Schwächen bewusst machen. Auch ein Maschinengott konnte schmerzhafte Wahrheiten ans Licht bringen, und wenn er sich nicht überrumpeln lassen wollte, musste er sich ihnen selbst stellen – vorher.
Elena. Er war nicht schuld an dem, was ihr zugestoßen war, obwohl er sich damals noch lange mit Selbstvorwürfen gequält hatte. Das Böse war nicht berechenbar. Es kam aus dem Dunkel, schlug zu und kehrte in die Dunkelheit zurück. Kein Mensch konnte den anderen immer und überall vor Unheil bewahren. Diese Einsicht linderte den Schmerz nicht und bot auch keinerlei Trost, aber sie hatte Benedict geholfen, wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Du kannst das Böse in der Welt nicht besiegen ...
Nein, er war Elena nichts schuldig. Er konnte nichts dafür, dass er noch am Leben war. Es war gut, wenigstens in diesem Punkt Klarheit gewonnen zu h aben, auch wenn das seine Furcht vor dem kaum minderte, was ihn dort drüben erwartete ...
»Heilige Mutter Gottes«, betete Pater Benedict und sank vor dem winzigen Altar mit der Heilige nfigur auf die Knie. »Hilf mir, dem Bösen zu widerstehen.«
Dort kniete er auch noch, als Stunden später die V ögel draußen zu zwitschern begannen und die Sonne sich groß und rot über den Gärten von Agion Oros erhob.
Pater Benedict ging allein. Die Oberen hatten ihm eine Begleitung angeboten, aber er hatte abgelehnt. Er brauchte keine Gesellschaft, die ihn nur ablenken würde.
Der Weg war ihm vertraut, und manchmal übe rkam ihn ein seltsames Gefühl von Déjà - vu, als er durch die sommerlich-mediterrane Landschaft bergauf marschierte. Immer wieder hielt er inne, um den Blick auf die blühenden Gärten, die Orangen- und Zypressenhaine rings um die hellen Mauern der Ordensburg zu genießen. Der Gedanke, dass Agion Oros das Relikt einer Welt war, die nicht mehr existierte, machte ihn traurig und stolz zugleich. Traurig in dem Wissen um die Endgültigkeit des Verlusts und stolz, weil es dem Orden gelungen war, wenigstens einen Teil des Verlorenen zu bewahren und ihm ein Refugium zu erschaffen, das bislang den Stürmen der Zeit getrotzt hatte ...
»Wunderschön, nicht wahr?«, sagte plötzlich j emand hinter ihm und Benedict fuhr erschrocken herum.
Es war ein Junge, etwa zwölf Jahre alt, braung ebrannt und mit einem strubbligen Haarschopf. Er trug ein verblichenes T-Shirt, Shorts und Sandalen und sah aus wie ein Dorfjunge, der vielleicht irgendwo in der Nähe Ziegen hütete. Das Problem war, dass es auf Agion Oros kein Dorf gab und auch keine Hirtenjungen. Das Mindestalter für Novizen lag bei 18 Jahren ... Der Junge konnte also nicht real sein.
»Dann bist du also das Empfangskomitee?«, e rkundigte sich Benedict freundlich, »falls ich den Weg nicht allein finde?«
Dennoch konnte er nicht umhin, die Perfektion der Projektion zu bewundern. Anders als der hi mmelblaue Unterhändler hatte der Junge quicklebendige braune Augen, die ihn unbefangen musterten, eine sonnenverbrannte Stupsnase, ein wenig schief stehende Vorderzähne und Grübchen an den Mundwinkeln. Überzeugender konnte kein richtiger Junge aussehen.
»Nein, ich war nur ein bisschen neugierig«, erw iderte der Junge mit einem Augenzwinkern, das klarmachte, dass er flunkerte.
»Irgendwie traurig, dass es hier keine anderen Ki nder gibt.« Diesmal zwinkerte er nicht, sondern sah Benedict ernst und aufmerksam an.
»Es ist ein Kloster«, sagte Benedict, obwohl er ah nte, worauf der andere hinauswollte. »Das wäre für Kinder auf Dauer ziemlich langweilig.«
»Ich weiß, was Agion Oros ist«, stellte der Bes ucher klar. »Ein Ort, der Erinnerungen bewahrt und das Leben ausschließt.«
»Dafür existiert er aber schon relativ lange, vie lleicht gerade, weil er die Welt draußen nicht zu nahe an sich heranlässt. Wer sich für unsere Art zu leben entscheidet, tut das freiwillig.«
»Das bestreitet niemand«, entgegnete der Junge mit einem ungeduldigen Schulterzucken, »und ä ndert auch nichts daran, dass eure Selbständigkeit eine Illusion ist. Ein
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