Die zweite Kreuzigung
sollte.
»Wir müssen wieder los«, sagte er.
Bald kamen sie immer schwerer voran. Es war fast Vollmond, und Galaxien von Sternen wie Zuckerwatte verstärkten das silberne Licht, das sich wie ein Tuch über die endlosen Sandwellen breitete. Das Licht half ihnen, aber die scharfen Schatten, die es warf, machten es auch schwer, zwischen den Dünen zu navigieren oder abzuschätzen, welche man sicher hinauffahren konnte und welche in sich zusammenfiel, sobald die Räder des ersten Jeeps sie berührten.
Ethan fuhr im ersten Wagen zusammen mit Gavril und dem Führer, Sarah saß im zweiten zusammen mit den Mönchen Claudiu und Flaviu, die beide kein Wort Englisch sprachen.
Draußen zauberten Licht und Schatten etwas wie eine Mondlandschaft in die Wüste. Sarah kam es vor, als krabbele sie darin herum – eine Fremde in einer Welt ohne Fixpunkte. Der Wechsel von Licht und Schatten, die Bewegungen der Sterne und das langsame Ziehen des Mondes ließen ihre Lider schwer werden. Sie nickte ein und schlief bald ganz fest.
Als sie wieder erwachte, hielten sie gerade in einem breiten Wadi. Die Mönche luden die Zelte aus, stellten sie auf und schleppten Schlafsäcke und anderes Notwendige hinein. Als alles getan war, versammelten sie sich wie stets zur Morgenandacht. Ayyub beäugte sie skeptisch aus sicherer Entfernung.
Am hellen Horizont verblassten die letzten Sterne. Campingtische wurden aufgestellt, und bald zog der Duft des Abendessens durch die Dünen. So wie es den Mönchen immer noch merkwürdig vorkam, die Morgenandacht vor dem Schlafengehen zu halten, so wollte auch der Magen sich gar nicht mit den Veränderungen abfinden, die das Vertauschen von Tag und Nacht ihnen aufzwang.
Keiner schlief an diesem Tag gut. Die Sonne brannte bald unerträglich heiß, in den Zelten sammelte sich ungewöhnliche Hitze, Sand setzte sich in jedes Hautfältchen, schien gar in alle Poren und hinter die Augenlider zu dringen.
Bis Mittag quälten sie sich mit all dem herum, dann erhoben sie sich nach und nach. Lieber wollten sie weiterfahren, als diese Tortur aushalten. Ayyub stimmte zu, dass es jetzt nicht mehr viel nützte, nur nachts zu fahren. Tagsüber waren die Chancen wesentlich besser, den Weg zu finden oder Aehrenthal zu entdecken. Sie beschlossen, von nun an tagsüber zu wachen und nach Sonnenuntergang zu schlafen. Nachdem alles verpackt war, brach die kleine Karawane wieder auf.
Am nächsten Tag erreichten sie ein weiteres Wadi, das sich zwischen 150 Meter hohen Dünen dahinschlängelte. Der Sonnenuntergang färbte den Himmel bereits rot und rosa, golden und grün. Sie waren total erschöpft. Als sie aussteigen wollten, fühlten sie sich völlig steif. Die Fahrtdieses Tages hatte sie so durchgerüttelt, dass sie jeden ihrer Knochen einzeln spürten. Es bestand die Chance, dass sie nach einer weiteren Tagesetappe auf die verschwundene Stadt stießen.
Sie schlangen ihr Mahl hinunter und kontrollierten dann ihre Waffen. Wenn sie Wardabaha erreichten, war die Wahrscheinlichkeit groß, das sie dort Aehrenthal und dessen Männern über den Weg liefen. Bald standen die Zelte verstreut auf dem Grund des trockenen Flussbettes. Die Mönche sangen unter Gavrils Leitung noch die Abendvesper und legten sich danach schlafen.
Sarahs Verdauung war inzwischen so in Unordnung geraten, dass es ihr schwerfiel, das Essen bei sich zu behalten. Sie hatte den Schock ihrer Entführung immer noch nicht ganz überwunden und das Gefühl, dass Aehrenthal in der Nähe sein könnte, ließ alte Ängste wieder aufleben.
Sie blieb noch eine Weile wach und sprach mit Ethan. Dies war die einzige Zeit, da sie miteinander allein waren, und von Tag zu Tag wurde sie immer wichtiger für sie. Sie sprachen über Hoffnungen und Ängste, über gute und schlechte Erinnerungen, über Verwandte, über alles, was ihnen gerade in den Sinn kam, nur nicht über Sarahs Schmerzen. Jeden Tag redeten sie länger über ihre Liebe zueinander, wie gefährdet sie noch war, aber wie sehr sie sie brauchten. Sie tauschten keine süßen Nichtigkeiten aus, suchten einander auch nicht zu verführen oder das Begehren im anderen zu wecken. Sie hätten beide gern mehr Zeit füreinander gehabt, aber sie wussten auch, dass ihre Liebe und deren Erfüllung sehr davon abhing, ob diese Expedition Erfolg hatte, ob es gelang, Aehrenthal zu stoppen und dessen Pläne zu durchkreuzen.
Als sie sich trennten, bemerkte Ethan, dass es für dieseTageszeit dunkler als gewöhnlich war. Er hatte sich
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