Die zweite Kreuzigung
oder Vorlesungen geboten haben mochte. Sie war offenbar eines dieser Mädchen, das gerade ein Jahr aussetzte – nicht wirklich gebildet, ganz aus verschmierter Wimperntusche und Vorurteilen bestehend, mit blassen Augen und blondem Haar, das unter einer zu heißen Sonne litt.
»Ich habe es mir hier zur Gewohnheit gemacht, meine Adresse für mich zu behalten«, sagte er. »Dies ist Feindesland. Sie sollten vorsichtig sein. Der Mossad schnüffelt überall herum, auch bei mir, glaube ich. Halten Sie Ihre Tür geschlossen und bleiben Sie am besten einige Tage lang im Haus. Wenn ich aus Tripoli weg bin, droht Ihnen keine Gefahr mehr.«
»Könnte ich vielleicht mit Ihnen kommen?«, fragte sie. »Ich hab die Nase voll hier, das kann ich Ihnen sagen. Natürlich meine ich, dass die Israelis Schweine sind und die Palästinenser ihren eigenen Staat kriegen sollten, nicht wahr? Aber ich muss Ihnen sagen, Bob steht mir bis hier. Mein nächster Freund muss etwas mehr darstellen. Und vor allem besser im Bett sein.«
Sie zeigte ein sehr einladendes Lächeln und leckte sich die Lippen. Sie war recht hübsch und vielleicht sehr feurig unter ihrem Burnus, aber Ethan ließ sie kalt. Er konnte nur an Sarah denken. Seit dem Missgeschick in Rumänien hatten sie die Sache ruhenlassen, aber wenn sie sich nahe kamen, funkte es permanent zwischen ihnen. Ihre Blicke trafen sich und trennten sich wieder, nur um zurückzukehren und sich tief ineinander zu versenken.
»Ich gehe jetzt wohl besser«, sagte er. »Wann soll ich wiederkommen?« Er hatte ihr eine Liste der Waffen gereicht, die Gavril benötigte.
»Geben Sie mir Zeit bis morgen Abend«, sagte sie. »Kommen Sie zu später Stunde. Und bitte allein.«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich werde Hilfe brauchen, um die Sachen zu tragen.«
Sie warf ihm einen enttäuschten Blick zu, schnaufte durch die Nase und zuckte die Schultern.
»Dann bringen Sie Ihre dämlichen Freunde eben mit. Wir machen eine Party.«
Zu Ethans Überraschung waren die Waffen tatsächlich zur Stelle, als sie das WAP-Büro am nächsten Abend aufsuchten. Bob war nirgendwo zu sehen. Statt dessen war ein Libyer zur Stelle, der die Transaktion abwickelte, während Helena zusah. Sein üppiges schwarzes Haar war nach hinten gekämmt und fiel ihm fast bis auf die Schultern. Er trug einen weißen Seidenburnus und ließ eine Kette mit Gebetsperlen aus Bernstein durch eine Hand gleiten, während er sprach. Helena warf Ethan immer wieder Blicke zu, aber er bemerkte auch, dass ihre Hand mit den langen Nägeln zuweilen auf der des Libyers ruhte und der die seine nicht fortzog. Er stellte sich als Tariq vor, sagte aber sonst nichts über sich. Doch sein Englisch verriet, dass er längere Zeit in den USA gelebt haben musste.
Ethan kam in Begleitung von Gavril und zwei weiteren Mönchen. Als sie darangingen, die in Sackleinen verpackten Waffen auf die Straße zu schaffen, wandte sich der Libyer an Ethan.
»Ich hatte im neuen Hafen zu tun«, sagte er. »Dort habe ich von jemandem gehört, einem Deutschen oder Österreicher, der ebenfalls Waffen kauft. Vielleicht ist er ein Freund von Ihnen. Vielleicht arbeiten Sie beide ja zusammen?«
Ethan schüttelte den Kopf.
»Ich weiß von keinem Deutschen«, sagte er. »Dabei bin ich sicher, dass es viele Deutsche gibt, die dem Volk von Palästina zu helfen versuchen.«
Sie verabschiedeten sich. Gavril und Ethan sprachen erst im Hotel wieder miteinander. Sie wussten, dass Aehrenthal ihnen einige Schritte voraus war. Sie mussten am nächsten Tag aufbrechen.
SECHSUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Der Weg nach Kufra
Nach der Küste beginnt der Sand. An einem gewissen Punkt kann man der Sahara nicht mehr ausweichen. Sie zieht sich über den ganzen Kontinent von Marokko im Westen bis zu den Küsten des Roten Meeres im Osten. Sie ist kein Meer, sondern ein riesiger Ozean, der ganze Welten verschlungen hat. Nach Süden reicht sie bis zur Sahelzone, wobei sie mehrere Staaten umfasst, deren Gebeine aufnimmt, Mensch, Tier und Stein in Staub verwandelt.
Sie fuhren bei Nacht und orientierten sich mit dem GPS. Die Scheinwerfer ihrer Fahrzeuge tanzten auf und ab, wenn sie hohe Dünen erklommen und sich an der anderen Seite hinabrollen ließen. Wenn sie den Kamm einer Düne fast erreicht hatten, zeigten die Lichtstrahlen gen Himmel, als suchten sie ihn nach lange verschwundenen Flugzeugen ab. Ethan fragte sich, ob sein Großvater wohl so gereist war, stets auf das Brummen deutscher Flugzeuge lauschend und sein
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