Die zweite Kreuzigung
sacht über die Steine.
»Das ist ja, als sei es erst gestern gemacht«, sagte er leise. »Als hätte der Künstler es gerade verlassen und sei noch in Rufweite. Schaut euch das Gold an. Die Steinchen sind aus Glas und mit Blattgold unterlegt. So etwas hat man mitten in der Wüste hergestellt.«
Max trat zurück und sah sich das Mosaik aus etwas größerer Entfernung an.
»Das ist der Tempel«, sagte er.
»Der Tempel?«
Max zögerte. Er trat dicht an das Bild heran und betastete die Steinchen wie Gerald mit den Fingerspitzen. Dann kames von ihm mit ruhiger, aber klar vernehmbarer Stimme: »Im achtzehnten Jahr seiner Regierung nahm Herodes … noch ein schwieriges Werk in Angriff. Er ging nämlich daran, den Tempel Gottes in weit größerem Umfang und viel höher zu errichten; denn er glaubte, dieses Werk müsse, wenn er es vollendete, wie es auch wirklich der Fall war, herrlicher sein als alles, was er bisher zustande gebracht hatte, und er würde sich dadurch ein dauerndes Andenken sichern.«
»Das ist der zweite Tempel, der über dem Salomos errichtet wurde. Die Römer brannten ihn nieder, als sie Jerusalem im Jahr 70 zerstörten, dreißig Jahre vor der Zeit, auf die sich die Inschrift draußen bezieht. Die Leute, die hier in der Wüste gebaut haben, können Juden gewesen sein, die damals fliehen mussten. Sehr viele ließen sich in Ägypten und der Cyrenaica nieder. Wenn ich mich recht erinnere, sind sie nach Süden gezogen.«
»Und was bedeutet dann das Kreuz?«, fragte Donaldson.
»Ich denke, die Antwort sehen wir hier«, sagte Max und hielt die Taschenlampe auf eine weitere Tafel an derselben Wand. Auf diesem Mosaik war eine ganz andere Szene zu sehen: Ein Mann schleppte ein römisches Kreuz, während die Umstehenden ihn entweder verspotteten oder ihm zu Hilfe eilten.
»Das gibt doch keinen Sinn!«, rief der Doktor. Seine calvinistische Erziehung in Aberdeen hatte ihn gegen bildliche Darstellungen allergisch gemacht. Sein Vater hätte dieses Mosaik wohl Teufelswerk genannt und seine Mutter etwas von Götzenverehrung gemurmelt. »Warum sollten Juden an der Wand ihrer Synagoge ein Bild unseres Herrn haben?«
»Ach was!«, sagte Max, sehr bemüht, nicht eingebildet zu wirken. »Das auf dem Mosaik ist nicht Jesus Christus.«
»Wer soll es denn sonst sein?«
»Haben Sie die Bibel nicht gelesen? ›Und zwangen einen, der vorüberging mit Namen Simon von Cyrene, … (der ein Vater war des Alexander und Rufus), dass er ihm das Kreuz trüge.‹ Zu Pfingsten besuchten Juden aus Cyrene Jerusalem, und einige der ersten Christen waren Bekehrte aus Libyen, also aus Cyrene, darunter Simon und seine Söhne.«
»Woher wollen Sie wissen, dass das Simon sein soll?«
Max wies auf eine Inschrift unter dem Bild.
»Weil es hier geschrieben steht. Jesus ist der dort hinter ihm.«
VIERTES KAPITEL
Simon von Cyrene
Als Max seine Erklärung beendet hatte, hörten sie ein Geräusch hinter sich. Es war Teddy Clark.
»Sir, die Frau, die uns hierher geführt hat …«
Gerald fuhr herum, denn er befürchtete, jetzt sei A’ishas Verrat offenbar.
»Was ist mit ihr?«
»Sie ist wieder da. Mit einer Freundin. Sie haben Lampen gebracht. Ich habe ihr zu verstehen gegeben, sie sollen sie Ihnen bringen, aber sie rühren sich nicht vom Fleck. Ich weiß nicht, was ich mit ihnen anfangen soll.«
Sie traten vor die Tür. A’isha und eine zweite Frau standen in einiger Entfernung und zitterten am ganzen Leib. Jede trug einen großen Korb aus Palmwedeln, in denen mit Olivenöl gefüllte Lampen aus Ton lagen.
Als Gerald sich ihnen näherte und der Strahl der Taschenlampe sie traf, wandten sie sich ab. Gerald ließ die Lampe sinken.
»Die sind für dich«, sagte sie. »Damit könnt ihr dort drinnen besser sehen.«
»Kommst du nicht mit hinein? Dort gibt es schöne Dinge anzuschauen.«
»Ist es ein Schatz? Die Alten haben erzählt, da drin seien Schätze, Gold und Edelsteine. Sie gehören dem König und der Königin, die dort begraben sind.«
»Davon habe ich nichts gesehen. Wenn du mitkommst …«
Die Frauen übergaben ihm die Körbe, ließen sich aber nicht dazu bewegen, durch die Tür zu gehen.
Sie nahmen die Lampen mit hinein und zündeten sie eine nach der anderen an. In ihrem ruhigen Licht wurden weitere Mosaiken auf dem Fußboden und an der Decke sichtbar. Zwischen der Darstellung des Tempels und dem Bild des heiligen Simon erblickten sie eine zweiflügelige Holztür, die ebenfalls mit feinen Schnitzerein geschmückt war.
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