Die zweite Kreuzigung
tiefblauem Lapislazuli verziert.
Max legte seine Hand auf die Schulter eines Engels und drückte gegen die Tür. Sie ließ sich geräuschlos öffnen. Als er mit der Taschenlampe hineinleuchtete, erblickten sie einen offenen Raum, der ihnen ebenso groß erschien wie jener darüber, aus dem sie gerade kamen.
»Bringt so viele Lampen herunter, wie ihr könnt«, rief er.
Während die anderen davoneilten, trat Max vorwärts, gefolgt von Gerald. Die Luft war so verbraucht, dass beide Männer nach Atem rangen. Gerald zog seinen Dolch aus der Scheide und rammte ihn unter den einen Türflügel, damit er offen blieb. Max tat das Gleiche mit dem anderen, um so viel Luft wie möglich in den Raum zu lassen.
Die ersten Lampen schaffte Donaldson herein. Es waren die Sturmlaternen von den Fahrzeugen, die flackerten und sprühten, weil es an Sauerstoff mangelte. Er stellte sie ab und lief zurück, um noch mehr Licht zu holen. Clark brachte ein paar von den Öllampen, und langsam wurde es heller.
Sie befanden sich in einer Krypta mit steinernen Gräbern und zahllosen Mauernischen, in denen Gebeine ruhten. Auf Sockeln standen Sarkophage unterschiedlicher Größe. Eine Wand war von halbrunden Aushöhlungen wie von Waben bedeckt, in denen je ein Schädel lag. Auf den Stirnen waren die Namen der Toten verzeichnet. Eine weitere Wand trug Inschriften in Hebräisch, Griechisch und Latein. Vor der dritten Wand, gegenüber der Tür, stand ein hölzernes Behältnis, sehr ähnlich der Lade im oberen Raum. Es war ein etwa 1,50 Meter hoher Schrein ähnlich einer Truhe mit zwei Türen. Die Türflügel zeigten die Gestalten von zwei Engeln. Die waren aus Marmor geschnitten und mit Gold verziert. Jeder hielt ein goldenes Kreuz hoch.
Max ging wie benommen zwischen den Grabstätten umher und versuchte, die Inschriften zu entziffern. Er zog ein Notizbuch aus der Tasche und begann Einzelheiten des Vorgefundenen festzuhalten. Niemand sagte ein Wort. Gläubige wie Ungläubige spürten, dass dies ein heiliger Ort war. Die Toten schliefen hier seit fast zweitausend Jahren. Vater und Mutter, Mann und Frau, Sohn und Tochter.Ganze Familien, in Einzelgräbern beigesetzt oder Seite an Seite in den Wandnischen, wo ihre Gebeine der Zeit getrotzt hatten und immer noch trotzten.
In der Nähe des Schreins befanden sich mehrere große Sarkophage dicht beieinander. Max las und notierte die Inschriften. Dann stand er eine Weile ganz still, die Hand auf den größten von ihnen gelegt. Gerald bemerkte, dass er aschfahl geworden war und die Hand auf den Sarkophag stützte, um ihr Zittern zu verbergen. Als er das Schweigen endlich brach, war es, als sei er von einer Reise aus einem fernen Land mit der Nachricht von einem Krieg oder dem Tod eines Königs zurückgekehrt, als stehe er vor ihnen wie eine Braut in dem Augenblick, da sie ihren Angetrauten empfängt.
»Gentlemen«, sagte er mit bebender Stimme. Bisher hatte er als der Ruhigste von allen gegolten, der sich nie aus der Fassung bringen ließ und stets Geduld anmahnte. »Gentlemen«, setzte er noch einmal an, »wir befinden uns hier an einem Ort, der von Geistern bewohnt ist. Sie alle haben Namen, die lange Schatten werfen. Die Gebeine in den Nischen sind ganz außergewöhnlich. Dort zum Beispiel« – er wies auf ein großes Behältnis zu seiner Rechten – »liegen jene des Simon von Cyrene. Daneben ruhen die Gebeine seiner beiden Söhne Alexander und Rufus. Alexanders Sarg ist eindeutig zuzuordnen. Oben sehen wir die Inschrift
Alexandros Simonos,
Alexander, Sohn des Simon, und an einer Seite
Alexandroi,
des Alexander. Beide Behältnisse tragen auch hebräische Inschriften. Die werde ich später kopieren. Aber das ist noch nicht alles.«
Er winkte sie näher an den Schrein heran.
»Hier stehen fünf große Sarkophage. Der eine beherbergt zwei Personen, wahrscheinlich Mann und Frau. DerName des Mannes ist Joseph, der seiner Frau Maryam – Maria. Dabei steht:
Die Nazarenen
– aus Nazareth. An den übrigen seht ihr drei weitere Namen: Jakob, Judas und Maria. Ihr werdet euch erinnern, dass Jesus’ Geschwister diese Namen trugen. Jakob stand der Kirche in Jerusalem vor. An den Sarkophagen sind längere Inschriften auf Hebräisch oder Aramäisch angebracht. Ich werde sie ebenfalls kopieren.«
Als er geendet hatte, breitete sich ein Schweigen in dem Raum aus, das anders war als sonst. Nicht das Fehlen jeglicher Geräusche oder die Stille, die sie aus der Wüste kannten. Es war etwas, das sie noch nie erlebt
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