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Die zweite Kreuzigung

Die zweite Kreuzigung

Titel: Die zweite Kreuzigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Auf beiden Flügeln war ein langgezogenes Kreuz zu sehen, umgeben von Fischen, die in hohen Wellen schwammen, Engeln, die Dämonen besiegten, Löwen, die unter Palmen ruhten, und Lilien, die sich in einem Lüftchen wiegten, das vor Jahrhunderten geweht hatte.
    Gerald drückte kräftig gegen den rechten Flügel, der mit einem schrillen Quietschen und Knarren der uralten Angeln nachgab. Er trat hindurch, gefolgt von den anderen, die mehrere Lampen mitbrachten und dann zurückgingen, um weitere zu holen. Als es langsam heller wurde, eröffnete sich ihnen nach und nach eine Welt längst vergangener Schatten. Um sie herum war ein Flüstern und Raunen, als erwachten die Toten von Jahrhunderten zu neuem Leben.
    An drei Seiten stiegen Sitzreihen zu mosaikgeschmückten Wänden empor wie in einem römischen Amphitheater. Als sie die Lichtkegel ihrer Taschenlampen nach oben richteten, erstrahlte über ihnen eine mit Gold und Glassteinchen geschmückte Kuppel. Sie wurde von zwei Engeln getragen, deren schneeweiße Gewänder und goldenen Flügel fast ihre gesamte riesige, von Flammen gesäumte Oberfläche einnahmen.
    »Und seine Gestalt war wie der Blitz und sein Kleid weiß wie Schnee«, zitierte Max.
    Am Ende des Raumes stand die Bima, das hölzerne Pult, auf dem die Thora gelesen wurde, und dahinter der Schrein zur Aufbewahrung der Thora-Rollen. Es war, als habe sichdie Gemeinde gerade erst erhoben und sei hinaus in die helle Sonne, unter die Palmen und den blauen Himmel gegangen. Gerald kam es vor, als steige ihm ein feiner Duft von Weihrauch, Myrrhen, vielleicht auch Sandelholz, Ambra oder Opopanax des Salomo in die Nase.
    Das war also eine Synagoge. Aber über der Lade, wo die Gesetzestafeln hingehörten, stand ein goldenes Kreuz, dessen ausladende Arme im Licht der Lampen funkelten.
    »Was hat das alles zu bedeuten, Max?«, fragte Gerald, dem an diesem Ort fern des Krieges jeder Sinn für militärische Ränge abhandengekommen war. »Das ist keine Synagoge, aber auch keine Kirche. Ich verstehe das nicht.«
    Max schaute eine Weile schweigend um sich, als wisse er nicht, wo er anfangen und wo er aufhören sollte.
    »Für mich ist das kein Widerspruch«, sagte er dann. »Die ersten Christen waren Juden. Dieser Ort ist offenbar von Juden errichtet worden, die an die Gesetze des Moses glaubten, aber Jesus als den letzten der Propheten, als einen von Gott gesandten Wundertäter, einen Erzengel anerkannten, der über die anderen Engel herrscht. Jesus’ Familie war für sie ein heiliges Geschlecht. Vergessen Sie nicht, dass an der Spitze der Kirche von Jerusalem Jakob, Jesus’ Bruder, stand. Als die Römer Jerusalem zerstörten, muss einer der Führer der Ebioniten, wie die Judenchristen sich selbst nannten, eine Gruppe von ihnen nach Westen geführt haben, wohin auch andere Juden flüchteten. Ich halte es nicht für unwahrscheinlich, dass der heilige Simon von Cyrene darunter war. Vielleicht hat er sie sogar angeführt. Wenn das zutrifft, dann hätten wir hier den wichtigsten archäologischen Fund unseres Jahrhunderts oder gar aller Zeiten vor uns. Pharao Tutanchamun sähe dagegen ziemlich blass aus, finden Sie nicht? Und wirhaben bislang nur an der Oberfläche gekratzt. Sehen Sie, dort!«
    Er wies in die Mitte des Raumes, wo ein von Säulen umgebenes offenes Rechteck zu erkennen war. Es lag in tiefem Schatten, aber als sie genauer hinschauten, konnten sie in der Mitte eine Öffnung im Fußboden erkennen, wo Stufen weiter nach unten führten.
    »Welche Bedeutung dieser Ort auch haben mag«, sagte Max, »dort wird sie sich uns enthüllen. Am Ende dieser Treppe. Kommt einer der Gentlemen mit mir?«
    Max ging voran und fegte die Spinnweben beiseite, als er die erste Stufe betrat. Wieder flüchteten kleine Wesen aus dem Licht der Taschenlampe. Ihr Strahl ließ etwa ein Dutzend Stufen sichtbar werden, die in eine Art Keller unter der Synagoge führten. Gerald folgte ihm mit angehaltenem Atem. Er war zu Tode erschrocken, denn es machte ihm Angst, was sie dort entdecken mochten, in welches Geheimnis sie so unbedachtsam hineingestolpert waren.
    Die Stufen endeten an einer weiteren Holztür, deren beide Flügel jeweils die Gestalt eines Engels mit einer Trompete und einer Krone auf dem Kopf schmückte. Die Engel waren vergoldet und mit Edelsteinen besetzt. Rubine säumten die Kronen wie Kirschen, die Trompeten waren mit Chrysolithen, Türkisen und Saphiren belegt, die Säume der Gewänder mit Jaspis, Saphiren, Smaragden und Gemmen aus

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