Die zweite Kreuzigung
zerfallen.«
»Ich habe Si Musa erklärt, weshalb wir gekommen sind. Ihr braucht unsere Hilfe. Wenn die Deutschen hier auftauchen, werden sie alle Bewohner dieser Oase töten. Ich schwöre bei diesem heiligen Ort und den geweihten Dingen, die er enthält, dass die Deutschen großes Unheil über die Kel Tamasheq bringen werden. Sie sind ohne Erbarmen. Auch wenn Si Musa und seine Frau tot sind, braucht ihr unsere Hilfe.«
Der Scheich hob die rechte Hand und richtete die Waffe auf Gerald.
»Nehmen Sie die Pistole weg!«, rief Gerald. Er war im Moment unbewaffnet. Mehr konnte er nicht tun.
Der Anislem drückte ab. Der Schuss löste in dem geschlossenen Raum ein heftiges Echo aus, als sei ein Stein zersprungen oder ein Grab habe sich geöffnet.
Als es wieder still war, blickten alle um sich. Gerald stellte fest, dass er noch aufrecht stand und offenbar unverletzt war. Er erblickte Max zu seiner Rechten und Donaldson ein paar Schritte weiter zu seiner Linken. Dann wandte er sich um und sah, dass Clark verschwunden war. Er schaute nach unten. Da lag der Soldat auf dem Rücken, über eine der Grabstätten hingestreckt.
Scheich Harun zielte wieder, aber bevor er zum zweiten Mal abdrücken konnte, krachte ein anderer Schuss. Der Priester fiel nach hinten, als hätte ein Maultier ihn hart gegen die Brust getreten, und stürzte zu Boden. Gerald trat an ihn heran und beugte sich hinunter.
»Er ist tot«, sagte er.
Donaldson lief zu Clark, aber es war zu spät. Die Kugel des Anislem hatte ihn in die Kehle getroffen.
Das Echo des zweiten Schusses war eine Ewigkeit zu hören. Der Schall schien in alle Winkel der Krypta gedrungen zu sein und hallte noch in ihren Ohren nach, als es in dem Raum bereits wieder totenstill geworden war.
»Ich denke, es wird Zeit, dass wir von hier verschwinden«, sagte Max und steckte seine Pistole ins Halfter zurück.
FÜNFTES KAPITEL
Im trüben Winter
Woodemancote Hall
bei Bishops Cleeve
Gloucestershire
England
Dezember 2008
Die Polizei war dagewesen und wieder weggefahren. Zwei Kleinbusse ohne Kennzeichen hatten die Leichen abgeholt. Den Gästen stellte man viele Fragen, nahm ihre Fingerabdrücke, dann schickte man sie nach Hause. Den ganzen Tag lang blieben drei Teams vor Ort, die in der Bibliothek sowie an Türen und Fenstern in der Nähe weitere Spuren sicherten. Polizisten in Uniform, Kriminalbeamte in Zivil, Leute von der Gerichtsmedizin und der Pathologie waren in endloser Folge ein- und ausgegangen. Von allen Gästen wurden DNA-Proben eingesammelt, alles in Sichtweite war fotografiert und nummeriert worden, Plastiktüten hatte man mit Beweismitteln aller Art gefüllt und jede Person von drei Jahren aufwärts in die Bibliothek beordert, damit sie erzählte, wie sie die vergangene Nacht erlebt hatte.
Um nicht untätig herumzusitzen und zu warten, bis sie an die Reihe kamen, hatten einige Gäste sich an die traurige Arbeit gemacht, den Weihnachtsschmuck abzunehmen. Die Polizei ließ sie gewähren. Der festlich geschmückte Baum, die Geschenke, die unter ihm lagen, die für das Festessen gedeckte Tafel, die Lampenketten undKerzen oder die Krippe waren nun die traurigsten Dinge der Welt, die niemand mehr ertragen konnte, nicht einmal die Kinder. Man hatte die Eltern zuerst befragt, so dass sie ihre Kleinen samt der Geschenke fortbringen konnten, um woanders den Versuch zu machen, für sie noch ein wenig Festtagsstimmung zu zaubern. Vielleicht hatte sich ja der Weihnachtsmann irgendwo versteckt und konnte sie die Schreie vergessen machen, die sie am glücklichsten Morgen des Jahres aus ihren Betten gerissen hatten zu Erwachsenen, die weinten und denen trotz all der Choräle, Engel und Lichter der blanke Horror ins Gesicht geschrieben stand.
Das Haus war verschlossen und mit einem Polizeisiegel versehen. Der Gemeindepfarrer hatte noch einmal an der Tür gebetet, als ob seine Worte und das Siegel ein gewisses Abschlussritual darstellten. Auch er war bedrückt seiner Wege gegangen, grübelnd, was er wohl seiner Gemeinde beim Abendgottesdienst sagen sollte. Ethan und Sarah, nun aus dem Haupthaus verbannt, hatten sich in das Gartenhäuschen, ein paar hundert Meter entfernt, zurückgezogen.
Draußen schneite es noch immer. In dem Kirchlein senkte eine Gemeinde, deren Reihen sich gelichtet hatten, die Köpfe und kniete nieder, um Gott für die Geburt des Jesuskindes zu danken. In den Wäldern, auf die sich die Dunkelheit senkte, zitterten Vögel in ihren Nestern, duckten sich Füchse,
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