Die zweite Kreuzigung
einige der Nischen waren noch leer. Es sollte nicht allzu schwer sein, die Tür zu finden, sie zu öffnen und ins Freie zu gelangen. Ethan tastete sich an den Särgen zu seiner Linken entlang und schleppte sich mit heftig schmerzenden Gelenken vorwärts.
Nach kaum einer Minute hatte er die Rückwand des Bauwerks erreicht. Er tastete sie mit den Händen ab, fand aber nichts als Stein und Spinnweben. Es war eine nackte Mauer, die von einer Seitenwand mit Nischen zur anderen reichte. Solides Mauerwerk, das bereits mehrere hundert Jahre Regen, Feuchtigkeit und Stürmen trotzte.
Noch rascher hatte er die andere Seitenwand hinter sichgebracht und befand sich vor der Tür. Sorgsam fuhr er über das Holz, bis er zu dem Spalt kam, wo die beiden Türflügel zusammenstießen. Als er ihn mehrmals von oben bis unten abgetastet hatte, verließ ihn aller Mut. Für einen Augenblick stand er völlig still. Er hatte nach einem Griff, zwei Griffen oder Knöpfen gesucht, mit denen man die Tür öffnen konnte. Jetzt aber wusste er, dass er nur seine Zeit verschwendete. Die Innenseite einer Mausoleumstür hatte keine Griffe.
Mit all seiner Kraft warf er sich zuerst gegen den einen, dann gegen den anderen Türflügel. Sie bewegten sich keinen Millimeter. Er versuchte es immer wieder. Sicher waren die beiden Mörder davongelaufen, ohne sich die Zeit zu nehmen, ihn einzuschließen. So ein Schicksal konnten sie ihm nicht zugedacht haben. Dann aber fiel ihm ein, wie er auf die beiden Leichen im Arbeitszimmer des Großvaters gestoßen war, wie Lukács Sarah die Kleider vom Leib gerissen und sie halbnackt durch die kälteste Nacht des Jahres getrieben hatte.
Als ihm klar wurde, dass er in der Falle saß, dass er in dieser Kälte und Finsternis sterben würde, einsam und allein unter den gefühllosen Toten, stieg Panik in ihm auf. Die Tür bestand aus dicken Holzbohlen, die von schweren eisernen Angeln gehalten wurden. Er wusste, dass er nie die Kraft aufbringen würde, sie auch nur einen Millimeter zu bewegen. Seine Beine, geschwächt von der Kälte, trugen kaum das Gewicht seines Körpers. Wieder stürzte er schwer auf seine rechte Hüfte und schrammte sich dabei den Ellenbogen auf. In diesem Augenblick fühlte er sich besiegt. Zugleich wurde ihm die grausige Wahrheit bewusst, dass auch Sarah bald sterben würde, wenn sie sie nicht bereits umgebracht hatten.
Er setzte sich wieder auf, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und wartete ab, bis sein Atem sich beruhigt hatte und der Schmerz in Hüfte und Ellenbogen etwas erträglicher wurde. Er hatte keine Ahnung, ob etwas gebrochen war. Aber das hatte ohnehin keine Bedeutung mehr. Wohin sollte er noch gehen, wofür seinen Arm noch benutzen?
Er hatte keine Ahnung, wie lange es dauern würde, bis die Luft in diesem Verließ völlig verbraucht war, doch er war sicher, dass es so kommen musste. Seine Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, aber in dem lichtlosen Raum war auch das gleichgültig. Einzig der Tastsinn war noch zu etwas nutze, doch alles, was er berührte, waren Spinnweben oder die verfallenden Reste älterer und jüngerer Toter. Alles in diesem steinernen Grab zerfiel zu Staub, und er würde denselben Weg gehen.
Das Unabänderliche, das ihn erwartete, war schwer vorstellbar und noch schwerer zu ertragen. Es zerriss ihm fast das Herz, wenn er daran dachte, wie man Sarah so völlig ohne jede Schuld in eine Verschwörung gezogen hatte, die hinter dieser ganzen Sache stecken musste. Er zermarterte sich das Hirn, worum es dabei gehen könnte, aber nichts passte zusammen, nichts ergab einen Sinn, der sein Gefühl für Gerechtigkeit und Ordnung zufriedengestellt hätte. Gegenstände, die Reliquien der Kreuzigung Christi sein konnten oder auch nicht, die man aus einem Grab in der Libyschen Wüste mitgenommen hatte, waren in ein Grab in England geraten und nun von Männern gestohlen worden, über deren Motive Ethan nur rätseln konnte. War es möglich, dass Reliquien des Christentums Menschen dazu brachten, andere zu ermorden, einen völlig Fremden in einem Totenhaus einzuschließen, einer Frau die Kleidervom Leib zu reißen und ihr mit Vergewaltigung zu drohen?
Die Hüfte schmerzte immer noch. Vorsichtig verlagerte er sein Gewicht auf die andere Seite, wobei er sich mit der linken Hand abstützte. Dabei spürte er, dass etwas gegen seine linke Hüfte drückte. Da er nicht wusste, was es war, tastete er mit der Hand in der Tasche seines Sakkos danach. Hervor kam die
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