Die zweite Kreuzigung
wurde angewiesen, Gloucester nicht zu verlassen. Bei Zuwiderhandlung drohte man ihm Konsequenzen an. Das war das Übliche. Überhaupt kam er sich vor, als sei er selbst der Ermittler. Ein, zwei Mal musste er den jungen Beamten, die ihn zu seiner Wohnung begleiteten, die exakte Vorgehensweise erklären. Er sorgte sich mehr um sie als um sich selbst, redete beruhigend auf sie ein und versprach, sich jeden Tag auf dem Revier zu melden. Sie verlangten seinen Pass, den er ihnen ohne Widerrede aushändigte. Es würde nicht lange dauern, bis eine höhere Charge, Willis vielleicht oder jemand von der Kronanwaltschaft, bei ihm auftauchte und ihm mitteilte, seine Freilassung auf Kaution sei widerrufen. Er musste rasch handeln.
Er ließ die Spurensicherung ihre Arbeit machen und fuhr sofort zu seiner Bank. Sein Vater hatte eine hohe Summe auf sein Konto überwiesen, die er sich zum großen Teil in bar auszahlen ließ. Dann kaufte er sich eine Reisetasche, ein Prepaid-Handy und ein Apple-Notebook. Endstation war die Kathedrale, in deren Café man vor neugierigen Augen ziemlich sicher war.
Mit einer Tasse Kaffee und einem Teller Schokoladenkuchen ließ er sich an einem Tischchen nieder, öffnete das Notebook und machte sich an die Arbeit. Er sandte ein Stoßgebet gen Himmel, dass noch niemand daran gedacht hatte, seinen Zugang zum Polizeicomputer zu sperren. Sein Herz schlug heftig, als er Namen und Passwort eingab. Sekunden später war er drin.
Zuerst öffnete er die Dateien mit seinen früheren Fällen. Langsam blätterte er sie durch, bis er auf den Namen stieß, den er brauchte. Er ermittelte die dazugehörige Telefonnummer und schloss die Datei wieder. Danach öffnete erdreißig weitere und rief wahllos eine große Zahl von Personen auf. Sollten sie die Suchaktion bemerken, dann wollte er damit seine Spur verwischen.
Er angelte das Handy aus der Tasche, tippte die Nummer ein, die er gerade notiert hatte, und sprach kurz mit dem Teilnehmer. Danach wandte er sich wieder dem Notebook zu.
Im Hauptsystem von Interpol hatte er häufig gearbeitet und kannte sich dort aus. Er klickte sich durch den europäischen Teil der Datenbank polizeilich gesuchter Personen und gab »Deutscher/Österreicher« sowie »Antiquitätendiebstahl/Hehlerei« ein. Rasch füllte sich sein Monitor mit Aktenzeichen. Seufzend machte sich Ethan an den mühseligsten Teil der Arbeit, die er sich vorgenommen hatte.
Er klickte auf »Erweiterte Suche« und fügte neue Begriffe hinzu: blond, blauäugig, 1,80 bis 1,90 Meter groß, Narbe auf Stirn/Nase.
Kurz darauf erschienen drei Namen samt Fotos auf dem Bildschirm. Als er das zweite Bild vergrößerte, sah er sich dem Mann gegenüber, der ihn angegriffen und Sarah entführt oder vielleicht bereits getötet hatte. Sein Name war Egon Aehrenthal, ein vierundvierzigjähriger Österreicher, geboren im Februar 1964 in Bernstein im Burgenland. Als Beruf war Antiquar mit besonderem Interesse an nahöstlichen Antiquitäten der biblischen, byzantinischen und umayyadischen Zeit angegeben. Er war in Israel und Ägypten wegen Schmuggels sowie im Libanon wegen Fälschung verurteilt und hatte in all diesen Ländern auch im Gefängnis gesessen.
Ethan musste lächeln. Als guter Spürhund hatte er seinen Mann auf den ersten Schlag gefunden. Aber vorerstnur in den Polizeiakten, nicht in der Realität. Neugierig las er weiter. Gewohnt, trockene Polizeiberichte mit Leben zu füllen, baute er sich ein Bild zusammen, das ihn auf die Spur des Mannes, und schließlich, wenn er richtig vermutete, zu Sarah bringen sollte.
Egon Armin Dietmar Hilarius Oktav Werner von Aehrenthal war an dem Tag geboren, da der österreichische Skistar Egon Zimmermann bei den Olympischen Winterspielen von 1964 in Innsbruck die Goldmedaille im Abfahrtslauf der Männer gewonnen hatte. Sein Vater, der den Wettkampf miterlebte, flog noch am selben Abend in Hochstimmung von einem Ende Österreichs zum anderen, um während der Entbindung bei seiner Frau in Bernstein zu sein. Seinem neugeborenen Sohn gab er Zimmermanns Vornamen, was ihm eine goldene Zukunft verheißen sollte.
Gold hätten die von Aehrenthals damals in der Tat gut gebrauchen können. Egon gehörte einer Familie an, die erst in den letzten Tagen der österreichisch-ungarischen Monarchie in den Adelsstand erhoben wurde. Egons Vater erzählte seinem goldhaarigen Sohn immer wieder, sie seien früher reich gewesen und würden es eines Tages wieder sein. Er berichtete Egon, wie sie in die
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