Die zweite Kreuzigung
zitierte, so gut es sein Gedächtnis erlaubte, aus Geralds Brief an Sarah. Er sprach eine Stunde lang, dann eine zweite. Der alte Priester ließ ihn dabei nicht aus den Augen. Obwohl der Raum hell erleuchtet war, vergaßen die vier bald alles ringsum. Von den Wänden blickten die Bilder längst verstorbener Priester und Mönche auf sie nieder, als lauschten auch sie Ethans Bericht.
Als er geendet hatte, fügte Sarah hinzu, was sie wusste und was sie sich zusammenreimen konnte. Die Geschichte ihres Urgroßvaters erhielt so ein fachmännisches Fundament.
Als sie endete, war es bereits tiefe Nacht. Pater Iustin sagte lange nichts. Er rieb nur seine Augen mit den Fingerknöcheln und legte dann einige Augenblicke die Handflächen darauf.
»Entschuldigen Sie«, sagte er. »Meine Augen brennen sehr. Seit Ilona hier war, habe ich nächtelang gebetet. Jedes Ding hat seine Zeit. Jetzt ist unsere Zeit gekommen. Ich bete dafür, dass alles gutgeht. Wenn nicht, dann wird auf diesen Anfang ein böses Ende folgen.«
Er holte einige Male tief Luft und murmelte das Jesusgebet immer wieder vor sich hin.
»Sie müssen alle sehr hungrig sein«, sagte er dann. »Sie haben eine weite Reise hinter sich. Tut mir leid, ich hätte Ihnen gleich etwas zu essen geben sollen, als Sie ankamen.Aber es hat mich so sehr gedrängt, zu erfahren, was Sie mir zu sagen haben. Nach dem Essen teile ich Ihnen mit, was mir auf der Seele brennt.«
Sie aßen miteinander beim Kerzenschein in einem leeren Refektorium. Es waren einfache Speisen – eine Pilzsuppe und Kohlrouladen, zu denen sie einen dünnen Rotwein tranken. Zum Dessert gab es Aprikosenknödel. Hungrig wie sie waren, fühlten sie sich wie auf einem Festbankett. Sarah mied den Wein, und als sie geendet hatten, war sie todmüde. Ilona brachte sie in ein kleines Haus außerhalb der Mauern, wo Nonnen sich um weibliche Gäste kümmerten. Auch Ilona war nach dem langen Weg am Ende ihrer Kräfte. Sie hatte die ganze Zeit bei schlechtem Wetter und sehr schwierigen Straßen am Steuer gesessen. Hinter Bistrit‚a hatten die Karpaten begonnen, wo sie auf eisigen Straßen hohe Bergpässe zu überqueren hatten. Sie wollte jetzt nur noch schlafen. Eine lächelnde Nonne brachte sie in ein Zimmer und gab ihr Nachtwäsche. Bevor sie sich ausziehen konnte, fiel sie, so wie sie war, auf das Bett.
ZWANZIGSTES KAPITEL
Ein Mann für alle Fälle
Die Kette der Jäger, die die kleine Hütte einkreisen sollten, war gerissen. Ein Wolf fehlte, und die beiden Männer, die ihn geführt hatten, waren durch Pfefferspray außer Gefecht gesetzt. Der dichte Wald hatte ihre Schreie gedämpft, so dass man sie nicht gleich fand. Keiner der Jäger hatte ein Handy bei sich. Aehrenthal selbst war an diesem Tag abwesend und wurde erst am Abend erwartet. Den hohen Funktionär der Pfeilkreuzler, der die Jagd leitete, beschlich nach und nach das ungute Gefühl, die Beute könnte ihm entschlüpft sein.
Kurz vor Sonnenuntergang stießen zwei Jäger auf einen grauenhaften Anblick. Auf einer Lichtung unweit der Jagdhütte lagen die Leichen zweier ihrer Kameraden, deren Kehlen zerfleischt und deren Gesichter nur noch Blutklumpen waren. Von dem Wolf, den sie am Morgen bei sich hatten, war weit und breit nichts zu sehen. Als man ihn zwei Tage später fand, war er von dem Schmerz in den Augen immer noch wie von Sinnen und musste getötet werden.
Der Pfeilkreuzlerboss, ein Ungar aus Debrecen namens Ágoston Fodor, wurde fuchsteufelswild. Dem Mann, der ihm die Nachricht brachte, versetzte er zunächst ein paar Faustschläge ins Gesicht und bearbeitete ihn dann noch mit dem Stock, den er stets bei sich hatte. Fodor wusste, dass er etwas unternehmen musste, bevor Aehrenthal zurück war. Er ließ den Jäger stöhnend liegen, wo er war, und eilte zum Schloss zurück.
Auf Castel Lup waren die Vorbereitungen auf eine Beratungvon Führungsmitgliedern des Ordo Novi Templi in vollem Gange. Etwa fünfzig Würdenträger waren bereits eingetroffen. Ihre Anwesenheit hatte die Jagd auf Sarah ausgelöst, denn Aehrenthal wollte sie seinen Mitstreitern unbedingt vorführen und ihr um jeden Preis die Koordinaten von Wardabaha abpressen.
Fodor hastete zum Schloss, das für ihn nur Vár Farkasnak war. Gerade wurde das abendliche Bankett zubereitet. Als Aehrenthals designierter Vertreter in Ungarn war er in Abwesenheit seines Führers der Chef des Schlosses. Rasch erklärte er einer kleinen Gruppe seiner Gefolgsleute die Lage, wobei er darauf achtete, seine
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