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Die zweite Kreuzigung

Die zweite Kreuzigung

Titel: Die zweite Kreuzigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Kette los, worauf der Wolf heulend von der Lichtung verschwand. In zwei Sätzen war Ilona bei dem zweiten Jäger, der wie angewurzelt dastand und offenbar nicht begriff, was seinem Kameraden und dem Tier geschehen war. Sie sprühte auch ihm in die Augen. Ethan trat zu den beiden Männern, die sich vor Schmerzen im Schnee wälzten. Er nahm ihnen die Waffen ab und hing sie sich über die Schulter.
    »Was um alles in der Welt war das denn?«, fragte er.
    »Pfefferspray«, sagte Ilona. »Und jetzt nichts wie weg.«

NEUNZEHNTES KAPITEL
Fallender Schnee und schimmernde Sonne
    Putna
    Bukowina
     
    Sie erreichten das Kloster zwischen Nachtgebet und Mitternachtsvesper in einer Zeit des Schweigens. Die Mönche waren in ihren Zellen, und die Priester bereiteten die Artoklasia, das Brotbrechen, am Ende der Vesper vor. Ilona führte sie durch die Dunkelheit zu der von Kerzen erleuchteten Kirche, die hinter hohen Klostermauern mitten in einem großen Ensemble von Türmen gekrönter Gebäude stand. Das war Putna, das Kronjuwel der Klostergründungen in Rumänien. Seit Jahrhunderten intonierten die Stimmen der Mönche hier von Stunde zu Stunde die Liturgie, jeden Tag, ob Sommer oder Winter, bei fallendem Schnee und schimmernder Sonne.
    Der Priestermönch erwartete sie in einem Bogengang dicht bei dem großen Ikonostas. Die meisten Kerzen waren bereits gelöscht, und der Priester, von Kopf bis Fuß in Schwarz, war im Dunkel kaum zu erkennen. Wolken von Weihrauch umschwebten ihn wie der heiße Atem von Drachen. Er sah sie auf sich zugehen, und obwohl er sie erwartete, erbebte sein Herz. Er wusste, woher sie kamen. Jahrelang hatte er auf diesen Augenblick gewartet und ihn gefürchtet. So viel hing davon ab, was jetzt geschah. Mehr Menschenleben, als er zu denken wagte, schuldige und unschuldige, christliche Kirchen überall in der Welt, vielleicht gar alle Religionen. Woher sollte er es genau wissen? Er trat aus dem Schatten heraus.
    Der Priester streckte ihnen die Hand entgegen. Ilona trat auf ihn zu und neigte den Kopf, um sie zu küssen. Als sie aufschaute, sah sie wieder in die freundlichen Gesichtszüge, die sie bei ihrer ersten Begegnung eine Woche zuvor so beeindruckt hatten. Mit dem langen weißen Bart wäre er im Westen als Weihnachtsmann durchgegangen, aber da war etwas in seinem Blick, das empfindsame Kinder erschrecken konnte.
    »Ethan«, sagte sie, »ich möchte Ihnen Archimandrit Iustin Dumitreasa vorstellen. Pater Iustin ist ein Priestermönch. Das bedeutet, er wurde zum Priester geweiht. Aber als seine Frau starb, ist er in dieses Kloster eingetreten, wo er jetzt zugleich als Mönch lebt.«
    »Seine Frau?« Ethan glaubte sich verhört zu haben.
    Ilona wollte antworten, aber da trat der Priester vor und nahm Ethans Hand.
    »Ihre anglikanischen Priester heiraten doch, oder?«, sagte er. »Das tun orthodoxe Geistliche auch. Wir sind ein Teil dieser Welt. Wie soll ein Mann ohne Frau und Familie die Sorgen seiner Gemeindemitglieder verstehen? Ilona hat mir gesagt, Ihr Name sei Ethan.«
    Ethan nickte. Dieser merkwürdige Priester flößte ihm Ehrfurcht ein. Als er ihm die Hand schüttelte, blickte er ihm in die Augen, die aus eingefallenen Wangen glühten. Das war kein gewöhnlicher Mann. Er wirkte getrieben, ja, beinahe prophetisch, ein moderner Jesaja, ein Seher, der Wunder vollbringen oder die Zukunft voraussagen konnte.
    Ethan löste sich von ihm und schob Sarah nach vorn. Die begriff später selbst nicht, was sie tat, aber als sie vor ihm stand, kniete sie nieder. Vater Iustin legte ihr seine knochigen, faltigen Hände auf den Kopf und murmelte ein kurzes Gebet.
    Es war das Jesusgebet, das orthodoxe Christen ständig auf den Lippen haben: »Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, hab Erbarmen mit mir Sünder.« Sarah wusste nicht, was der Geistliche betete oder was es bedeutete, aber etwas an seiner Berührung oder seiner Stimme strahlte Frieden aus. Diese Riten waren ihr fremd. Sie war keine gläubige Frau und hatte auch als Kind nicht viel für Religion übriggehabt. Aber ob es nun der Kniefall war oder das Handauflegen, das sie damit auslöste – sie spürte, wie ein Schauer sie überlief, dem eine große Ruhe folgte. Sie erhob sich wieder, noch ein wenig unsicher wie jemand, der gerade vom Krankenbett aufgestanden ist und die ersten Schritte gehen will. Die Schatten ringsum bewegten sich, und das strahlende Licht der Kerzen erleuchtete die satten Farben des Ikonostas mit den Bildern von Jesus, Maria und zahllosen

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