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Die zweite Stufe der Einsamkeit

Die zweite Stufe der Einsamkeit

Titel: Die zweite Stufe der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R. R. Martin
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sah ihre glänzenden, glücklichen Augen und dachte darüber nach. „Möglich“, sagte ich schließlich. „Aber so schlimm ist es für sie auch wieder nicht. Sie kennen nichts anderes. Und sie versuchen es, sie lieben sich auch. Und manchmal überbrücken sie die Kluft.“
    „Nur ein Blick und eine Stimme, dann wieder Dunkelheit und Schweigen“, zitierte Lya, und ihre Stimme klang traurig und sanft. „Wir haben es besser, nicht wahr? Wir haben soviel mehr.“
    „Wir haben es besser“, wiederholte ich. Und ich tastete hinaus, um sie ebenfalls zu lesen. Ihr Geist war ein Nebel aus Befriedigung, mit einem leisen Duft sehnsüchtigen, einsamen Verlangens. Aber da war auch noch etwas anderes, tiefer, jetzt fast vergangen, aber noch immer schwach wahrnehmbar.
    Ich setzte mich langsam auf. „Hey“, sagte ich. „Du bist doch wegen irgend etwas besorgt. Und vorhin, als wir hereingekommen sind, da hast du Angst gehabt. Was ist los?“
    „Ich weiß nicht, wirklich nicht“, sagte sie. Sie klang verwirrt, und sie war verwirrt; ich konnte es in ihr lesen. „Ich hatte Angst, aber ich wußte nicht, warum. Die Gebundenen, glaube ich. Ich muß immer noch daran denken, wie sehr sie mich geliebt haben. Sie haben mich nicht einmal gekannt, aber sie liebten mich so sehr, und sie verstanden – es war fast wie das, was wir miteinander teilen. Es … ich weiß nicht. Es hat mich durcheinandergebracht. Ich meine, ich hätte nie gedacht, irgend jemand außer dir könnte mich derart lieben. Und sie waren so nahe, so dicht beieinander. Ich habe mich so einsam gefühlt, obwohl ich deine Hand gespürt habe, obwohl wir miteinander geredet haben. Ich wollte dir genauso nahe sein. Nachdem ich miterlebt habe, wie sie alles teilen, ist mir das Alleinsein leer vorgekommen. Und beängstigend. Verstehst du mich?“
    „Ich versteh’ dich“, sagte ich, berührte sie wieder sanft mit Hand und Geist. „Ich versteh’ dich. Wir verstehen einander. Wir sind zusammen, fast wie sie, auf eine Art, wie es die Normalen nie sein können.“
    Lya nickte und lächelte und schmiegte sich an mich. Arm in Arm sind wir eingeschlafen.
    Wieder Träume.
    Aber wieder stahl sich die Erinnerung mit dem Morgengrauen davon. Es war alles sehr enttäuschend. Der Traum war angenehm, behaglich gewesen. Ich wollte weiterträumen, aber ich konnte mich nicht einmal daran erinnern, was es gewesen war. Unser Schlafzimmer war vom harten Tageslicht durchflutet; nach dem Zauber meiner verlorenen Vision wirkte es trostlos.
    Lya erwachte nach mir, wieder mit Kopfschmerzen. Dieses Mal hatte sie die Tabletten gleich zur Hand, auf dem Nachttischchen. Sie zog eine Grimasse und nahm eine.
    „Es muß der Shkeen-Wein sein“, erklärte ich. „Etwas nimmt über ihn einen ziemlich düsteren Einfluß auf deinen Metabolismus.“
    Sie streifte einen frischen Overall über und sah mich schief an. „Ha. Wir haben gestern abend Veltaar getrunken, erinnerst du dich? Mein Vater hat mir mein erstes Glas Veltaar gegeben, da war ich neun. Ich hab’ noch nie Kopfweh davon bekommen.“
    „Einmal gibt’s immer ein erstes Mal“, sagte ich und lächelte.
    „Das ist nicht lustig“, sagte sie. „Es tut weh.“
    Ich hörte mit der Frotzelei auf und versuchte, sie zu lesen. Sie hatte recht. Es tat weh. Ihre ganze Stirn pulsierte vor Schmerz. Ich zog mich schnell zurück, bevor ich es mir auch holte.
    „Also gut“, sagte ich. „Es tut mir leid. Aber die Tabletten werden schon damit fertig werden. Inzwischen haben wir noch einen Job zu erledigen.“
    Lya nickte. Sie hatte sich noch nie von irgend etwas von der Arbeit abhalten lassen.
    Dieser zweite Tag war ein Tag der Menschenjagd. Wir brachen viel früher auf: Nach einem hastigen Frühstück mit Gourlay holten wir unser Luftauto, das vor dem Turm abgestellt war. Diesmal landeten wir nicht am Rande von Shkeenstadt. Wir brauchten einen menschlichen Gebundenen, und das hieß, daß wir eine ausgedehnte Suchaktion vor uns hatten. Diese Stadt war die größte, die ich je gesehen hatte, jedenfalls, was die Fläche anging, und die rund tausend menschlichen Kultanhänger verloren sich zwischen den Millionen von Shkeen. Außerdem – von diesen Menschen waren nur knapp die Hälfte bereits wirklich gebunden.
    Deshalb hielten wir das Luftauto ziemlich niedrig und flitzten wie eine Hummel auf Blütensuche über die kuppelbedeckten Hügel – immer wieder, hin und zurück, was in den Straßen unter uns für einigen Aufruhr sorgte. Die Shkeen hatten

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